Tics treten vor allem im Kindesalter auf. Etwa 4% der Kinder sind davon betroffen. Die Symptome schwächen sich meist im Erwachsenenalter ab. Tics äußern sich durch kurze Bewegungen (motorische Tics) oder Lautäußerungen (vokale Tics), die häufig in rascher Abfolge auftreten und keinen ersichtlichen Bezug zur aktuellen Situation haben.
Eine der bekanntesten Tic-Störungen ist das Tourette-Syndrom. Hier treten komplexe vokale und multiple motorische Tics gemeinsam auf. Die vor allem aus Film und Fernsehen bekannte Koprolalie – also die Äußerung sozial unangebrachter oder obszöner Wörter oder Wortsalven – kommt jedoch nur bei 10 bis 20% der Betroffenen mit Tourette-Syndrom vor. Häufig treten Tics vergesellschaftet mit weiteren Verhaltensauffälligkeiten, etwa Angststörungen, Zwängen, ADHS oder Depressionen, auf.
Wo entstehen Tics?
Über die Entstehung von Tics ist bislang wenig bekannt. Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren verschiedene Bereiche des Gehirns identifiziert, die bei Tics eine Rolle zu spielen scheinen. „Unklar blieb jedoch: Welche dieser Hirnareale lösen die Tics aus? Welche sind stattdessen aktiv, um fehlerhafte Prozesse zu kompensieren? Wir konnten jetzt zeigen, dass es nicht eine einzelne Hirnregion ist, die die Verhaltensstörungen verursacht. Tics sind stattdessen auf Fehlfunktionen in einem Netzwerk verschiedener Areale im Gehirn zurückzuführen“, so Dr. Andreas Horn von der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie an der Berliner Charité [1]. Horn hat zusammen mit seinem Team nach möglichen Orten der Tic-Entstehung im Gehirn gefahndet. Die Ergebnisse wurden jüngst im Fachjournal „Brain“ publiziert [2].
Meta-Analyse von Tic-Störungen nach Trauma
Die Forscher untersuchten die Fragestellung in mehreren Schritten. Zunächst wurde eine Meta-Analyse von bereits publizierten Fallbeschreibungen durchgeführt. Das Besondere bei den ausgewählten Fällen: Die Tic-Störung war bei ihnen auf eine erworbene Schädigung des Gehirns zurückzuführen, was selten ist. Die Patienten hatten im Vorfeld beispielsweise Schlaganfälle oder Unfälle erlitten und in der Folge eine Tic-Störung entwickelt. Bei der Literaturrecherche fanden sich 22 solcher Fälle.
Die Forscher kartierten die Areale der Verletzung und auch die Orte, die bekanntermaßen mit diesen Arealen über Nervenfasern in Verbindung stehen. Zu dieser Konnektivitätsanalyse nutzten die Forscher Daten, die auf der Basis von Hirnscans von mehr als 1.000 gesunden Kontrollen an der Charité und der Harvard Medical School erstellt worden waren.
Analyse zeigt mehrere betroffene Areale
Im Ergebnis waren die Schädigungen in mehreren Lokalisationen des Gehirns zu finden, die fast alle Teil eines gemeinsamen neuronalen Netzwerkes sind. Insgesamt wurden die Läsionen in folgenden Bereichen gefunden: Inselrinde (Cortex insularis), Gürtelwindung (Gyrus cinguli), Striatum, Globus pallidus internus, Thalamus und Kleinhirn.
Bassam Al-Fatly, einer der beiden Erstautoren der Studie von der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie, erläutert: „Diese Strukturen sind praktisch über das gesamte Gehirn verteilt und haben unterschiedlichste Funktionen, von der Steuerung der Motorik bis zur Verarbeitung von Emotionen. Sie alle wurden in der Vergangenheit bereits als mögliche Auslöser für Tics diskutiert, ein eindeutiger Beweis ist jedoch bisher nicht gelungen und auch ein direkter Zusammenhang zwischen diesen Strukturen war nicht bekannt. Jetzt wissen wir, dass diese Hirnbereiche ein Netzwerk bilden und tatsächlich die Ursache für Tic-Störungen sein können.“
Prüfung der Daten durch retrospektive Analyse der Tic-Therapie
Nachdem die Forscher das neuronale Netzwerk identifiziert hatten, prüften sie die Aussagekraft ihrer gewonnen Erkenntnisse anhand einer retrospektiven Analyse der Therapie von 30 Patienten mit Tourette-Syndrom. Diese Patienten waren an drei unterschiedlichen europäischen Behandlungszentren mittels tiefer Hirnstimulation therapiert worden. Die tiefe Hirnstimulation wird aktuell bei Patienten angewendet, die nicht ausreichend auf verhaltenstherapeutische und medikamentöse Therapieansätze ansprechen.
Es zeigte sich tatsächlich, dass die Symptome der Betroffenen durch die tiefe Hirnstimulation am besten kontrolliert werden konnten, wenn die Elektroden im Bereich des zuvor identifizierten neuronalen Netzwerkes platziert worden waren.
Nutzung der Erkenntnisse für tiefe Hirnstimulation
Die Identifizierung des mit Tic-Störungen assoziierten neuronalen Netzwerkes und die retrospektive Analyse von Therapiedaten lassen auf eine Präzision in der Therapie hoffen.
„Menschen mit schweren Tic-Störungen profitieren also offenbar am meisten, wenn die tiefe Hirnstimulation auf das Tic-Netzwerk abzielt“, sagt Privatdozent Dr. Christos Ganos, Erstautor der Studie und oberärztlicher Leiter der Ambulanz für Tic-Störungen an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie. „Diese neue Erkenntnis werden wir in Zukunft in die Behandlung unserer Patientinnen und Patienten mit einfließen lassen, indem wir bei der Implantation des Hirnschrittmachers das Tic-Netzwerk berücksichtigen. Wir hoffen, dass wir so den wirklich hohen Leidensdruck für die Betroffenen noch besser abmildern können, um ihnen ein weitestgehend selbstbestimmtes und sozial erfülltes Leben zu ermöglichen.“









