IQWiG fordert reguläre Nutzenbewertung für Orphan Drugs

Eine Analyse des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat gezeigt, dass der fiktive Zusatznutzen von Orphan Drugs nur bei etwa der Hälfte der Wirkstoffe durch eine reguläre Nutzenbewertung bestätigt werden konnte.

Bewertung

Medikamente gegen seltene Erkrankungen (Orphan Drugs) unterliegen aufgrund marktwirtschaftlicher Risiken bei der Zulassung leicht vereinfachten gesetzlichen Regelungen. Auch bei der anschließenden Nutzenbewertung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) haben Orphan Drugs ein Sonderecht. Nach § 35a SGB V Abs. 1 gilt der medizinische Zusatznutzen bereits durch die europäische Zulassung als belegt. Der Nachweis des Zusatznutzens im Verhältnis zur Vergleichstherapie muss erst erbracht werden, wenn der Umsatz des Arzneimittels innerhalb eines Jahres einen Betrag von 50 Millionen Euro übersteigt. Das IQWiG hat kürzlich analysiert, für wie viele der nachträglich einer regulären Nutzenbewertung unterzogenen Orphan Drugs ein Zusatznutzen bestätigt werden konnte.

Fiktiver Zusatznutzen von Orphan Drugs

Wegen niedriger Fallzahlen und um die Entwicklungskosten zu senken, dürfen Zulassungsstudien von Orphan Drugs mit deutlich geringeren Teilnehmermengen durchgeführt werden. Im Vergleich zu herkömmlichen Zulassungsverfahren geht mit dem Status als Orphan Drugs zudem ein europaweites Exklusivrecht für die Vermarktung über einen Zeitraum von 10 Jahren einher. Die Evidenz für den Zusatznutzen kann der G-BA nach Markteinführung meist nur anhand der Daten des Herstellers ermitteln. Kann keine eindeutige Nutzenbewertung vorgenommen werden (nicht quantifizierbarer Zusatznutzen), wird einem Orphan Drug ein sogenannter „fiktiver Zusatznutzen“ bescheinigt.

Zusatznutzen bei 54% nicht bestätigt

In der Analyse des IQWiG wurden 41 Orphan-Drug-Bewertungen mit fiktivem Zusatznutzen seit 2011 betrachtet. Diese betrafen 20 verschiedene Wirkstoffe, da einige der Arzneimittel für mehrere Anwendungen zugelassen wurden. Mehr als die Hälfte der Präparate hatte zuvor einen fiktiven Zusatznutzen in Form eines einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzens (21 Bewertungen, 51%) erhalten. Bei 22 der 41 Bewertungen (54%) konnte in der regulären Nutzenbewertung kein Zusatznutzen („nicht belegt“) festgestellt werden.

Späte reguläre Bewertung

Die Analyse des IQWiG zeigte zudem, dass eine Bewertung des Zusatznutzens in der Regel erst nach mehreren Jahren erfolgt. Bei den 22 Fragestellungen ohne Nachweis eines Zusatznutzen dauerte es im Mittel drei Jahre (mindestens ein Jahr, bis zu neun Jahre) bis zur regulären Nutzenbewertung. Bei Orphan Drugs, die die Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro jährlich nicht erreichten, fand gar keine reguläre Nutzenbewertung statt.

IQWiG fordert Abschaffung der Sonderregelung

Jürgen Wideler, Leiter des IQWiG erklärte, die Analyse belege eine Fehlsteuerung bei den Orphan Drugs. „Wenn in gut der Hälfte der Fälle, in denen eine reguläre Nutzenbewertung zu Orphan Drugs durchgeführt wurde, der ursprünglich konstatierte Zusatznutzen nicht bestätigt wird und Orphan Drugs, die einen echten Mehrwert darstellen, nicht mehr von Beginn an als solche erkannt werden können, besteht Handlungsbedarf.“, so Wideler. Er fordert daher die Abschaffung des Privilegs des Zusatznutzens für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen.

Auch Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung erklärte, dass „ein wesentliches Ziel des AMNOG [Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz], nämlich die Spreu vom Weizen zu trennen“ bei den Orphan Drugs mit dem derzeitigen Verfahren nicht erreicht werde.

Folgen für Patientenversorgung

Der bevorzugte Einsatz von Arzneimitteln mit Orphan-Drug-Status ohne Datengrundlage habe zudem Folgen für die Qualität der Patientenversorgung, so Kaiser weiter. „Die Patientinnen und Patienten haben dann viel Hoffnung in ein neues Arzneimittel gesetzt, für das erst Jahre später klar wird, dass es gar keinen Nachweis einer Überlegenheit gegenüber den vorhandenen Therapieoptionen gibt.“ Der fiktive Zusatznutzen verhindere, dass zwischen Orphan Drugs mit und ohne echten Fortschritt für die Patientenversorgung unterschieden werden könne.

Kostentreiber der GKV

Windeler machte zudem auf den wirtschaftlichen Aspekt aufmerksam. Laut des Arzneimittel-Kompass 2021 der AOK seien Orphan Drugs wesentliche Kostentreiber in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Eine sorgfältige Differenzierung zwischen Wirkstoffen mit echtem Fortschritt und solchen ohne Zusatznutzen sei daher aus mehreren Gründen sinnvoll und überfällig.

Autor:
Stand:
27.01.2022
Quelle:

IQWiG: Pressemitteilung – Orphan Drugs: Privileg des „fiktiven“ Zusatznutzens nicht gerechtfertigt (12.01.2022)

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