
Hintergrund
Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) hat die Freigabe des COVID-19-Impfstoffs Comirnaty® von BioNTech/Pfizer am 29. Mai für Kinder ab zwölf Jahren empfohlen. Eine Erweiterung der Zulassung bedarf nur noch der Zustimmung der europäischen Arzneimittelkommission (EMA). Das gilt aber als Formsache. Marco Cavaleri, Leiter der Impfstrategie bei der EMA, beurteilt die Anwendung von Comirnaty bei Kindern zwischen zwölf und 15 Jahren als sicher und wirksam. [1] Die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut bewertet die Datenlage ebenfalls – und wird sich nach bisherigen Verlautbarungen vermutlich gegen eine uneingeschränkte Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche aussprechen. Vielmehr ist zu erwarten, dass die Impfung nur für Minderjährige mit chronischen Vorerkrankungen empfohlen wird. Die endgültige Entscheidung wird in den nächsten zehn bis 14 Tagen erwartet.
COVID-19-Erkrankungsrisiko bei Kindern
Primärer Diskussionspunkt der STIKO-Empfehlung ist das Verhältnis zwischen dem Risiko einer Impfung und dem Risiko, an COVID-19 und dessen Komplikationen bzw. Folgeschäden zu erkranken. „Es muss zunächst genau geklärt werden, wie dringend die Kinder die Impfung tatsächlich brauchen für ihren eigenen Gesundheitsschutz“, erläutert Professor Dr. Thomas Mertens, Vorsitzender der STIKO, im Deutschlandfunk. Um festzustellen, wie groß die Gefährdung der Kinder durch eine SARS-CoV-2-Infektion ist, werden alle verfügbaren Daten ausgewertet, so Mertens. [2] Untersuchungen zeigen, dass sich Kinder jeden Alters mit SARS-CoV-2 infizieren können. [3] Mehr als die Hälfte bleibt jedoch asymptomatisch und entwickelt keine Beschwerden. [4, 5] Schwere und tödliche COVID-19-Verläufe gibt es bei Kindern und Jugendlichen nur sehr selten. [6] Mertens betont, dass man sicher sein muss, „dass die Maßnahme, die getroffen ist, wirklich passgenau zum Ziel führt“. [2]
Komplikationen und Folgeschäden
Neben dem allgemeinen COVID-19-Erkrankungsrisiko fließen etwaige Komplikationen und Langzeitfolgen in die Impfentscheidung der STIKO ein. Eine bei Kindern und Jugendlichen gefürchtete Komplikation ist das Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS) bzw. MIS-C (Multisystem-Entzündungssyndrom bei Kindern). Das schwere inflammatorische Syndrom betrifft häufig Kinder mit einer leichten oder unbemerkt verlaufenen SARS-CoV-2-Infektion. Ursachen und Langzeitfolgen sind derzeit noch unklar. Erste Erkenntnisse liefert jetzt eine Nachbeobachtungsstudie aus Großbritannien.
Nachbeobachtungsstudie zu PIMS
Ein Team um Karyn Moshal vom Great Ormond Street Hospital in London begleitete 46 an PIMS erkrankte Kinder (durchschnittliches Alter 10 Jahre) über sechs Monate nach Entlassung aus dem Krankenhaus. Fast alle kleinen Patienten erholten sich wieder von der potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung. Bei einem Kind persistieren erhöhte Entzündungswerte, zwei Kinder zeigen noch auffällige Echokardiogramme. Ein Kind wird infolge eines ausgedehnten Koronararterienaneurysmas dual antithrom¬botisch behandelt, sechs Kinder haben weiterhin leichte gastrointestinale Beschwerden. 18 Kinder leiden auch nach einem halben Jahr nach Verlassen der Klinik an neuropsychiatrischen Störungen, speziell an Muskelschwäche und emotionaler Instabilität. Die Beschwerden sind jedoch so mild ausgeprägt, dass 17 von ihnen wieder vollzeitbeschult werden können (Online- oder Präsenzunterricht). [7]
Herdenimmunität, Schulöffnungen, Urlaub
Sekundäre Argumente, die für sich alleine genommen keine ausreichende Begründung für eine Kinder-Massenimpfung liefern, sind Herdenimmunität, Schulöffnungen, Teilhabe am öffentlichen Leben oder Urlaubsfahrten, so Mertens. [2] Rüdiger von Kries, eines der 18 Kommissionsmitglieder der STIKO und Professor für Kinderepidemiologie, unterstreicht dies bei einem Auftritt in der Sendung „RBB-Spezial“. Dass es ohne Kinderimpfungen keine Herdenimmunität gegen SARS-CoV-2 geben könnte, lässt Kries als Motiv für eine uneingeschränkte Impfempfehlung für Minderjährige nicht gelten. Die könne man viel besser erreichen, wenn man sich um die 40 Millionen Erwachsenen kümmere, die noch nicht geimpft sind. Darüber hinaus würden diese Personen sehr viel mehr Vorteile von den Impfungen haben als die Kinder. Von Kries dazu: „Kinderimpfungen macht man, damit die Kinder davon profitieren können, damit den Kindern schwere Krankheiten erspart bleiben, ohne dass sie ein Risiko eingehen.“ [8]
Nebenwirkungen
Ein anderer Diskussionspunkt bei der STIKO-Entscheidung ist das Nebenwirkungsrisiko. Um diese Problematik weiß auch die EMA. Laut CHMP hätte man in der Zulassungsstudie aufgrund der begrenzten Anzahl von Kindern seltene Nebenwirkungen nicht erkennen können. Zudem ist bekannt, dass der Sicherheitsausschuss PRAC der EMA derzeit sehr seltene Fälle von Myokarditis und Perikarditis untersucht, die nach der Impfung mit Comirnaty aufgetreten sind – hauptsächlich bei Personen unter 30 Jahren. Noch gibt es keinen Hinweis darauf, dass diese Fälle auf den Impfstoff zurückzuführen sind. Dennoch beobachtet die EMA diese Angelegenheit genau. [1] „Bei unklarem Risiko kann ich zurzeit noch nicht vorhersehen, dass es eine Impfempfehlung für eine generelle Impfung geben wird“, so von Kries. [8]
Ansteckungsrisiko
Wissenschaftler gehen schon länger davon aus, dass mit SARS-CoV-2-infizierte Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene. Eine Arbeitsgruppe um Professor Dr. Christian Drosten an der Berliner Charité untermauerte diese These. Zunächst erscheinen die Viruslasten-Messwerte von Kindern und Erwachsenen sehr different. So enthielten Rachenabstriche von SARS-CoV-2-Infizierten zwischen 20 und 65 Jahren rund 2,5 Millionen Kopien des viralen Erbguts; bei Kindern zwischen null und fünf Jahren hingegen nur rund 800.000 – also deutlich niedrigere Viruslasten. Mit steigendem Alter der Kinder und Jugendlichen glichen sich die Werte immer mehr denen der Erwachsenen an. „Diese Zahlen sehen erst einmal unterschiedlich aus, wir betrachten Viruslasten aber auf einer logarithmischen Skala“, erläutert Drosten. Zu beachten ist, dass das Probenmaterial von Kindern beispielsweise mit deutlich kleineren Abstrichtupfern entnommen wird. Dadurch geht weniger als halb so viel Material in die PCR-Testung ein. Ferner werden anstelle von tiefen Nasenrachenabstrichen oft nur einfache Rachenabstriche gemacht. „Deshalb erwarten wir bei Kindern mit gleicher Virusvermehrung von vornherein geringere Viruslast-Messwerte in der PCR“, so Drosten. Nach Einberechnung aller Variablen und einer klinischen Bewertung der korrigierten Zahlen kommt der Virologe zu folgendem Fazit: „Mein anfänglicher Eindruck einer ungefähr gleich großen Infektiosität aller Altersgruppen hat sich bestätigt, nicht nur hier, sondern auch in anderen Studien.“ [9]
Bundesgesundheitsminister vs. STIKO
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) plant nach erfolgter Zulassung der EMA bis Ende August flächendeckende Corona-Schutzimpfungen für Schulkinder ab zwölf Jahren – unter Umständen auch gegen den Rat der STIKO. [10] Dabei rät nicht nur die Ständige Impfkommission zur Vorsicht. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), bewertet die Datenlage zu Risiken und Nutzen einer Kinderimpfung ebenso als unzureichend, um eine klare Empfehlung abgeben zu können. Zuvor braucht man umfängliche und wissenschaftlich gesicherte Informationen über Corona-Impfungen bei Kindern und Jugendlichen. „Wir haben uns immer für eine Impfstrategie ausgesprochen, die wissenschaftliche Sorgfalt vor Geschwindig¬keit setzt. Und daran halten wir auch und gerade bei einer Impfempfehlung für Kinder fest,“ betont der BÄK-Präsident gegenüber der Rheinischen Post. [11]
Ferner hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) eine Stellungnahme verfasst. Darin heißt es unter anderem: „Gesunde Kinder und Jugendliche haben nach bisher vorliegenden Studiendaten ein minimales Risiko für schwere Verläufe durch Erkrankungen mit SARS-COV 2. Selbst bei Vorerkrankungen ist das Risiko extrem niedrig. Zum Nutzen einer Impfung gibt es bisher keine validen Daten. Dagegen sind die schweren Impf-Nebenwirkungen wesentlich häufiger als bei Erwachsenen. Deswegen sind COVID-19-Impfungen von Kindern und Jugendlichen allenfalls bei schweren Vorerkrankungen im Rahmen von kontrollierten Studien denkbar.“ [12]