
Gut 40 Prozent aller deutschen Regionen weisen ein alarmierend hohes Fallaufkommen auf. Insgesamt 34 Städte, Bezirke oder Landkreise liegen teils massiv über der Obergrenze. So bezeichnete RKI-Chef Lothar Wieler in einer kurzfristig angesetzten Pressekonferenz am Donnerstag die Lage als „sehr ernst“. Doch er betonte auch: „Wir sind nicht machtlos“, mit Blick auf das Verhalten aller Bürger. „Derzeit haben wir noch die Chance, die weitere Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.“ Doch es müsse trotz Maßnahmen damit gerechnet werden, dass sich das Virus in einigen Regionen stark und auch unkontrolliert ausbreiten könne.
Anteil älterer Menschen steigt wieder
Die Fallzahlen steigen immer schneller und es sei nach Wieler ein drastisches, sehr dynamisches Geschehen. Insgesamt seien in den vergangenen sieben Tagen drei Mal so viele Fälle wie noch vor zwei Wochen gemeldet worden. Doch es seien eher jüngere Menschen betroffen, weshalb vor allem leichte Verläufe beobachtet werden. Wieler mahnte, dass jedoch der Anteil bei älteren Menschen steige und alte Menschen nicht auf Dauer völlig isoliert werden könnten.
Was bedeutet das für die Situation der Intensivstationen?
Zu Beginn der ersten Welle ging man davon aus, dass ungefähr fünf Prozent der Patienten intensivpflichtig wurden und ca. 20 Prozent der Infizierten ins Krankenhaus mussten. Aktuell ist jedoch der Altersdurchschnitt der Infizierten geringer als zu Anfang der Pandemie und liegt bei 39 Jahren. Prof. Dr. Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, betont in einem Interview des NDR-Podcasts »Das Coronavirus-Update«: „Problematisch wird es wenn wir wieder ein Eindringen in ältere Altersschichten haben, wie bei europäischen Nachbarländern. Weil der ältere, testpositive, 80 jährige Patient hat ein deutlich erhöhtes Risiko, stationär aufgenommen zu werden. Das liegt deutlich über zehn Prozent.“
Umverteilung des Pflegepersonals könnte zu Leistungseinschränkungen führen
Zu dem potentiell erhöhten Bedarf an freien Intensivbetten kommt jedoch noch ein ganz anderes Problem hinzu: Personalmangel. Zwar hat Deutschland pro 100.000 Einwohner die meisten Intensivbetten, doch, so betont Kluge: „Der Pflegemangel ist in der Intensivmedizin eigentlich unser Hauptproblem, auch schon vor Corona. Wir haben Umfragen dazu gemacht. Und wir wissen auch, dass 20 bis 30 Prozent der deutschen Intensivbetten nicht bepflegbar sind.“ Bei einem Anstieg der Patientenzahlen mit COVID-19 in den Krankenhäusern müsse es deshalb zu einer Umverteilung von Pflegekräften auf die Intensivstation kommen. Und das führe, nach Einschätzung von Kluge, zu einer Leistungseinschränkung der übrigen Bereiche.
„Deswegen darf nicht immer auf diese freien Betten verwiesen werden. Die sind in der Tat laut DIVI frei aber wir haben momentan gar nicht das Personal, um diese zu bepflegen.“
DIVI-Intensivregister
Das DIVI-Intensivregister ist eine Website, welche die freien Beatmungsplätze in allen Kliniken Deutschlands registriert und diese zur Abfrage bereitstellt. Ziel ist über dieses eine regionale Koordination der intensivstationären Betten und damit eine optimale Versorgung der COVID-19-Patienten sicherzustellen.
Was hat sich bei der Behandlungssituation getan?
Seit Beginn der Pandemie begann ein Wettlauf im Erforschen verschiedenster Behandlungsoptionen für COVID-19. Die größten klinischen Studien, mit dem Ziel eine Therapie gegen das neuartige Coronavirus zu finden, sind die von der Weltgesundheitsorganisation initiierte Solidarity-Studie sowie die von der französischen Forschungsorganisation INSERM koordinierte Discovery-Studie. Die bisher veröffentlichten Daten waren allerdings eher ernüchternd. Zwar ließ die US-Arzneimittelbehörde FDA gestern (22.10.2020) das antivirale Medikament Remdesivir (Veklury) offiziell zur Behandlung von COVID-19 zu, doch konnten die Ergebnisse klinischer Studien bisher immer noch nicht final überzeugen. So kam die Weltgesundheitsorganisation vergangene Woche zu dem Schluss, dass Remdesivir keine oder nur geringe Auswirkungen auf die Sterblichkeit oder die Länge des Krankenhausaufenthalts von Corona-Patienten habe. Lediglich für Dexamethason scheint ein Nutzen, zumindest bei einer bestimmten Patientenpopulation und bei Einsatz zum richtigen Zeitpunkt, gegeben zu sein. So reduzierte Dexamethason in der Recovery-Studie bei beatmeten Patienten die Todesfälle um ein Drittel und bei Patienten, die nur Sauerstoff erhielten, um ein Fünftel. Bei Patienten, die keine respiratorische Unterstützung benötigten, führte die Dexamethason-Gabe zu keinem Nutzen.
Aussicht
Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, erwartet für den Fall eines weiteren Anstiegs der Corona-Zahlen: „Bei 20.000 Neuinfektionen am Tag gerät die Lage außer Kontrolle“, sagte Montgomery der Rheinischen Post. Dann wäre es für Gesundheitsämter nicht mehr möglich, die Infektionsketten nachzuverfolgen und zu unterbrechen und es drohe ein zweiter Lockdown, weil sich das Virus anders nicht mehr bremsen lasse.
Prof. Dr. Stefan Kluge geht davon aus, dass es in den nächsten 14 Tagen zu keiner Überlastung des Gesundheitssystems kommen wird, stellt jedoch klar: „Wir werden schon eine Einschränkung des Krankenhausbetriebes haben, da gar nicht genug Pflegekräfte im System sind. Deswegen ist es jetzt höchste Zeit, wirklich zu sagen, diese Infektionszahl knapp unter 10.000, die sollte wirklich nicht überschritten werden.“