
Über die Sinnhaftigkeit der Zulassung von bivalenten Booster-Impfstoffen wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Hierzu zwei Expertenmeinungen. Eric Topol, Professor für Molekulare Medizin und Executive Vice President von Scripps Research in den USA, zieht als ehemals großer Skeptiker eine positive Bilanz zum Einsatz der bivalenten Impfstoffe. Der US-amerikanische Pädiater und Impfstoffentwickler Professor Paul A. Offit bleibt weiterhin skeptisch. Vom grundsätzlichen Nutzen einer Corona-Impfung zum Schutz vor schweren Covid-19-Verläufen sind allerdings beide überzeugt.
Meinung Offit: Kein Nutzen der bivalenten Impfstoffe erkennbar
Offit, der als Mitglied dem FDA Vaccines and Related Biological Products Advisory Committee angehört, sprach sich seinerzeit als einziger Experte gegen die Zulassung der bivalenten Impfstoffe aus. Die von Pfizer/BioNTech und Moderna vorgelegten Daten waren enttäuschend, erinnert sich der Pädiater im „New England Journal of Medicine“ (NEJM). Die bivalenten Auffrischungsimpfstoffe führten zu neutralisierenden Antikörpern gegen BA.1, die nur 1,5–1,75-mal so hoch waren wie die mit monovalenten Auffrischungsimpfstoffen erzielten Werte. Aufgrund der Erfahrungen der Impfstoffhersteller rechnete Offit nicht mit einem klinisch signifikanten Unterschied [1].
Zulassung erfolgte trotzdem
Aufgrund des nahenden Winters entschied sich die US-amerikanische Arzneimittelbehörde (Food and Drug Administration [FDA]) für die Zulassung bivalenter Impfstoffe – mit der Maßgabe, dass diese auf die Omikron-Subvarianten BA.4 und BA.5 abzielen sollten. Diese machten zu dem Zeitpunkt mehr als 95% der in den USA zirkulierenden Stämme aus. Kurze Zeit später bestätigten diverse Studien Offits Vermutungen.
Demnach war kein signifikanter Unterschied in der Neutralisierung irgendeiner SARS-CoV-2-Variante festzustellen. Die BA.5-neutralisierenden Antikörper-Titer nach monovalenten Auffrischimpfungen und bivalenten mRNA-Boostern waren vergleichbar, auch waren keine nennenswerten Unterschiede in den CD4+ oder CD8+ T-Zell-Reaktionen zwischen beiden Gruppen feststellbar [1].
CDC-Daten
Am 22. November 2022 veröffentlichte die US-amerikanische Gesundheitsbehörde (Centers for Disease Control and Prevention [CDC]) Daten zur Wirksamkeit der BA.4/BA.5-mRNA-Impfstoffe bei der Verhinderung symptomatischer Infektionen innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Auffrischungsdosis.
Bei Personen, die zwei bis drei Monate zuvor einen monovalenten Impfstoff erhalten hatten, lag der zusätzliche Schutz durch einen bivalenten Booster zwischen 28 und 31%. Personen, die mehr als acht Monate zuvor einen monovalenten Impfstoff erhalten hatten, wiesen einen zusätzlichen Schutz zwischen 43 und 56% auf.
Angesichts der Ergebnisse früherer Studien befürchtet Offit, dass der moderate Anstieg gegen eine wahrscheinlich im Allgemeinen mild verlaufende Covid-19-Infektion aber nur von kurzer Dauer sein wird [1].
Fazit
Offit zufolge ist die Strategie zur signifikanten Erhöhung der neutralisierenden BA.4- und BA.5-Antikörper mit einem bivalenten Impfstoff gescheitert. Das sei wahrscheinlich auf die Prägung zurückzuführen. Die Immunsysteme der mit dem bivalenten Impfstoff geimpften Personen, die zuvor grundimmunisiert worden waren, waren darauf programmiert, auf den Stamm von SARS-CoV-2 anzusprechen. Sie reagierten daher wahrscheinlich eher auf Epitope, die BA.4 und BA.5 mit dem Vorgängerstamm gemeinsam haben, als auf neue Epitope von BA.4 und BA.5 [1].
Glücklicherweise haben sich die bisher bekannten SARS-CoV-2-Varianten nicht in eine Richtung entwickelt, dass sie den Schutz vor schweren Krankheiten vollständig unterlaufen, der durch Impfungen oder frühere Infektionen aufgebaut wurde, sagt Offit. Sollte dies der Fall sein, müssten tatsächlich variantenspezifische Impfstoffe entwickelt werden [1].
Meinung Topol: Einsatz von bivalenten Impfstoffen gerechtfertigt
Topol stand der Zulassung von bivalenten Impfstoffen zunächst skeptisch gegenüber, da sie ohne Kenntnis jeglicher Humandaten erfolgte. Mittlerweile hat er seine Meinung geändert. Die nun vorliegenden umfangreichen Daten rechtfertigen die Zulassung und den Einsatz der adaptierten Vakzine, äußerte er sich in einem Meinungsbeitrag auf „Ground Truths“ [2].
Bei diesen Daten handelt es sich um Bewertungen der neutralisierenden Antikörperreaktion gegen verschiedene SARS-CoV-2-Varianten auf bivalente an die BA.4/5-Variante angepasste Impfstoffe im Vergleich zu den ursprünglichen, gegen den Wuhan-Stamm gerichteten Vakzine.
Derzeit liegen acht solcher Studien vor, vier davon wurden mithilfe von Lebendviren durchgeführt. Alle Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die bivalenten Impfstoffe – wie erhofft und erwartet – eine bessere neutralisierende Antikörperreaktion gegen BA.5, aber auch gegen XBB aufweisen. Letzteres sei insofern von Vorteil, da XBB.1.5 in den USA wohl bald die dominierende Virusvariante sein wird [2].
Real-World-Daten ausschlaggebend
Von entscheidender Bedeutung seien die Real-World-Daten von geimpften Probanden, schreibt Topol. In einer israelischen Studie war die Zahl der Covid-19-Krankenhauseinweisungen bei Patienten, die eine bivalente Auffrischungsdosis erhielten, um 81% und die Zahl der Todesfälle um 86% niedriger als bei Menschen ohne bivalente Auffrischungsdosis [2].
Ähnliches spiegeln die CDC-Daten vom wöchentlichen Bericht am 30. Dezember 2022 wider. Demnach wiesen Personen ab 65 Jahre mit einer bivalenten Auffrischungsdosis einen deutlichen Schutz vor Krankenhausaufenthalten von 73–84% auf – und zwar nicht nur im Vergleich zu Ungeimpften, sondern auch zu Personen, die monovalent aufgefrischt worden waren. Ein zweiter Bericht, der sich auf alle Erwachsenen ab 18 Jahre bezog, zeigte eine Wirksamkeit der bivalenten Booster-Impfungen von 38–57% hinsichtlich der Covid-19-bedingten Krankenhauseinweisungen [2].
Am 28. Dezember 2022 veröffentlichte die CDC aktualisierte Daten zum Schutz durch bivalente Impfstoffe bezüglich Krankenhausaufenthalte. Im November ergab sich für Personen ab 65 Jahre, die mit einem bivalenten Impfstoff geimpft worden waren, eine 90%ige Verringerung der Hospitalisierungen im Vergleich zu ungeimpften Personen, zudem ein 13,5-fach erhöhtes Krankenhauseinweisungsrisiko für die letztgenannte Gruppe. Senioren mit einer monovalenten Boosterdosis hatten ein 2,5-fach erhöhtes Risiko für eine Covid-19 bedingte Krankenhauseinweisung [2].
Fazit
Der beständige und starke Rückgang der Krankenhausaufenthalte während der BQ.1.1-Welle, speziell bei den gefährdeten Personen, spiegele die Ausweitung der Immunreaktion auf die bivalente Impfung im Vergleich zur ursprünglichen Auffrischungsimpfung wider, so Topol. Außerdem gäbe es mittlerweile mehr als ausreichend konsistente Beweise durch Labor- und klinische Studien, die den Vorteil des bivalenten Boosters gegenüber einer monovalenten Auffrischungsdosis belegen würden [2].