
Ein molekulares Tumorboard setze den Zugang zu einer qualitätsgesicherten Diagnostik voraus, betonte Dr. Kathrin Heinrich vom Comprehensive Cancer Center (CCC) und der Medizinischen Klinik III der Ludwig Maximilians-Universität München anlässlich des Deutschen Krebskongresses in Berlin [1]. Die Testung mache nur Sinn, wenn auch der Zugang zu den Therapeutika besteht, die daraus resultieren können, beispielsweise in Studien.
Genetische Marker bedeuten noch gleich Therapiemöglichkeit
Anhand der ersten 1.000 Patienten, die im molekularen Tumorboard am CCC München betreut wurden, zeigte sie die unterschiedliche Häufigkeit genetischer Alterationen mit therapeutischen Konsequenzen [2]. Bei Brustkrebs, Gallengangskarzinomen, Sarkomen oder Karzinomen mit unklarem Primarius konnten bei über der Hälfte der Patienten anhand der Testergebnisse Empfehlungen zur Behandlung gegeben werden. Dagegen wurden beispielsweise bei von einem Pankreaskarzinom Betroffenen zwar viele genetische Alterationen identifiziert. Sie hatten aber in der Mehrzahl keine Therapieempfehlung zur Folge. Da sei es sehr wichtig, sich zu überlegen, welche Erwartungshaltung man vor dem Test vermittle und wie man die Chancen darstelle, betonte Heinrich.
Empfehlungen zur Präzisionsmedizin
Die Arbeitsgruppe Präzisionsmedizin der Europäischen Gesellschaft für Medizinische Onkologie (ESMO) empfiehlt den routinemäßigen Einsatz von Next-Generation-Sequencing (NGS)-Testungen bei verschiedenen fortgeschrittenen Karzinomen: beim nichtkleinzelligen Lungenkarzinom mit einer anderen als einer Plattenepithelhistologie, beim Prostatakarzinom, beim Ovarialkarzinom und beim Cholangiokarzinom. Beim Kolonkarzinom ist das NGS als eine Alternative zur Polymerase-Kettenreaktion (PCR) aufgeführt. Bei gut bis moderat differenzierten neuroendokrinen Tumoren sowie beim fortgeschrittenen Karzinom von Speicheldrüse, Schilddrüse und Vulva soll nach den Empfehlungen die Tumormutationslast (engl. tumor mutational burden, TMB) bestimmt werden.
Rasante Zunahme von möglicherweise therapeutisch relevanten Biomarkern
Einen Standard of Care gibt es im Grunde nicht. Die potenziell therapeutisch relevanten Alterationen mit in Studien überprüften neuen Wirkstoffen werden stetig mehr. „Der eigentliche Standard ist der Einschluss in klinische Studien“, erklärte Heinrich. Die Option des molekular-definierten Zugangs zu klinischen Studien nicht nur in einigen wenigen Zentren, sondern in der Fläche ist eine große Herausforderung. „Egal wo, es sollten die diagnostischen Vorteile der Präzisionsmedizin wahrgenommen werden können“, sagte Heinrich. In Deutschland haben sich das verschiedene Initiativen und Netzwerke zur Aufgabe gemacht, beispielsweise das Nationale Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs, das deutsche Netzwerk für Personalisierte Medizin oder das Deutsche Konsortium für Translationale Krebsforschung.
Ärzte oft überfordert
Mit den Grundlagen und Konsequenzen der genomischen Medizin fühlen sich viele Ärzte nicht vertraut, gerade auch in der Kommunikation mit den Patienten [3]. Das ist nicht zuletzt im Hinblick auf Keimbahnmutationen wichtig. „Es muss von Anfang an auf den Tisch, dass es bei etwa 15% der Getesteten auch Hinweise auf erbliche Krebserkrankungen gibt“, betonte Heinrich mit Hinweis auf die deutsche MASTER-Studie [4]. Die Humangenetik müsse daher frühzeitig einbezogen werden, nicht erst nach dem Bericht des molekularen Tumorboards.
Umsetzung der Therapieempfehlung sicherstellen
Nicht alle Patienten, die einer genetischen Testung unterzogen werden, haben eine therapeutisch relevante Mutation. Von denen erhalten aber auch nicht alle eine den Empfehlungen entsprechende Therapie. Vor einigen Jahren wurde der Anteil auf 12% aller Getesteten geschätzt. Ein Ansprechen auf das Medikament resultierte bei 0,8-3% aller Getesteten [5]. „Wir müssen sicherstellen, dass die Patienten die Therapie, die wir empfehlen, auch erhalten können“, sagte Heinrich.
Wenn die Zulassung noch fehlt
Einige Medikamente wurden auf Basis von frühen klinischen Studien zugelassen und standen rasch zur Verfügung, beispielsweise Larotrectinib bei Tropomyosin-Rezeptor-Kinase (TRK)-Fusionen. Schwieriger ist es, wenn vielversprechende Studienergebnisse vorliegen, aber noch keine Zulassung erteilt wurde. Als Beispiel nannte Heinrich die neoadjuvante Immuntherapie bei lokal fortgeschrittenen Mismatch-Repair-defizienten Kolonkarzinomen. In der auf dem ESMO-Kongress 2022 vorgestellten NICHE-Studie hatten 99% der Karzinome ein Ansprechen gezeigt, davon 95% major (≤10% vitale Tumorzellen), und nach mehr als einem Jahr hatte noch kein Patient ein Rezidiv entwickelt [6]. Da müsse man schon fragen, ob man das den Patienten wegen noch nicht erteilter Zulassung vorenthalten könne, meinte Heinrich. Die Leitlinien würden dabei wenig weiterhelfen. „Die rapide Entwicklung kann durch die Leitlinien nur unzureichend abgebildet werden“, sagte Heinrich.
Alle Sektoren gefragt
Mehr onkologische Patienten mit guten therapeutischen Optionen zu versorgen ist auch deshalb schwierig, weil viele ambulant und außerhalb von klinischen Studien behandelt werden. Daher sei eine bessere intersektorale Vernetzung für die Umsetzung der Präzisionsonkologie und für die Datensammlung und Evidenzgenerierung entscheidend, meinte Heinrich. Sie forderte: „Wir müssen aufhören, diagnostische Tests künstlich von der Behandlungsplanung und -durchführung zu trennen und einen stärker integrierten Versorgungsansatz anstreben!“