
SARS-CoV-2 entwickelt ständig neue Mutationen, sodass das Virus gegen die meisten zugelassenen neutralisierenden SARS-CoV-2-Antikörper resistent ist und die impfinduzierte oder post-COVID-bedingte körpereigene Immunabwehr unterwandert. Folglich steigt die Anzahl der Infektionen und Re-Infektionen. So haben beispielsweise die Omikron-Subvarianten zu einer weltweiten Gesundheitskrise geführt.
Zur Eindämmung der neuen Subvarianten und zur Vorbereitung auf neue Mutationen wären breite und potente humanisierte SARS-CoV-2-neutralisierende Antikörper vorteilhaft. Diesen Ansatz verfolgte ein Forschungsteam um Dr. Sai Luo und Dr. Frederick W. Alt von der Harvard Medical School in Boston. Die Wissenschaftler identifizierten tatsächlich einen Antikörper, der offenbar alle bisher bekannten Virusvarianten von SARS-CoV-2 neutralisieren kann. Die Ergebnisse ihrer Forschung publizierten sie im »Science Immunology«.
Methodik
Der als SP1-77 bezeichnete Kandidat wurde mithilfe von Mäusen entwickelt. Dafür veränderten die Forschenden das Mäusegenom so, dass die Nager ein vielfältiges Repertoire an humanen antikörperproduzierenden B-Zellen ausbilden. Danach injizierten sie den Tieren zweimal im Abstand von vier Wochen Spike-Protein-Immunogene des Wuhan-Stamms von SARS-CoV-2 oder Nanopartikel mit nur dessen Bindungsstelle. Als Reaktion bildeten die Mäuse neun verschiedene Antikörperstämme gegen das Coronavirus. Gemeinsam mit Wissenschaftlern der Duke University testeten Alt und Luo die Wirksamkeit dieser Antikörper mittels Neutralisationstests.
Ergebnisse
Antikörper in drei der neun Familien neutralisierten das ursprüngliche Wuhan-Hu-1-Virus stark. Ein Stamm, insbesondere ein Antikörper, fiel dabei besonders ins Auge. Der als SP1-77 abgekürzte Kandidat zeigte eine breite und starke neutralisierende Aktivität gegen Alpha-, Beta-, Gamma-, Delta- sowie alle früheren und aktuellen Omikron-Varianten. Um die Wirkweise von SP1-77 zu verstehen, analysierten Luo und Team dessen Bindung an das Spike-Protein von SARS-CoV-2. Mittels Kryo-Elektronenmikroskopie sahen die Forschenden, dass SP1-77 nicht wie die meisten anderen Antikörper an der stark veränderlichen Rezeptor-Bindungsdomäne (RBD) des Coronavirus andockt; stattdessen heftet sich SP1-77 an die gegenüberliegende Seite der ACE2-Bindungsstelle.
Die meisten Mutationen von SARS-CoV-2 liegen damit außerhalb der Position von SP1-77, was dessen breiten Wirkungsansatz erklären könnte. Dies macht den Antikörper robust gegenüber mutationsbedingten Virusveränderungen. Selbst die Mutationen der erst kürzlich neu aufgetretenen Omikron-Variante 2.75 liegt abseits der Bindungszone von SP1-77. Folglich sollte der neue Antikörper auch gegen diese Variante wirken, überlegen Luo und Kollegen.
Erklärungsansatz
Strukturbiologische Studien von Teams unter der Leitung von Dr. Bing Chen und Jun Zhang am Boston Children’s und Dr. Barton Haynes am Duke College ergaben, dass SP1-77 nicht die ACE2-vermittelte virale Bindung oder Endozytose verhindert. Vielmehr blockiert der Antikörper die Fusion der äußeren Virushülle mit der Zellmembran und behindert so einen für den Zelleintritt des Virus essenziellen Schritt. Vereinfacht gesagt, kann das Coronavirus zwar an menschliche Zellen binden, aber nicht in diese eindringen. Damit setzt der neue Antikörper an einem Punkt an, der bisher von keinem therapeutischen oder durch Impfung erzeugten Antikörper genutzt wurde, erklären die Wissenschaftler.
Fazit
Die breite und starke Neutralisierungsaktivität von SP1-77 und der nicht-traditionale Wirkmechanismus lassen vermuten, dass dieser Antikörper ein starkes therapeutisches Potenzial hat. Die Wissenschaftler hoffen, dass sich SP1-77 bei Patienten als ebenso wirksam erweist wie in den bisherigen präklinischen Untersuchungen. In diesem Fall könnte er ein neues Therapeutikum darstellen und auch zu neuen Impfstoffstrategien beitragen, so die Überlegungen der Forschenden.