
„Der Knackpunkt in der Kontrazeption sind oft die Estrogene“, sagte Professor Dr. Thomas Römer, Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe am Evangelischen Klinikum Köln Weyerthal anlässlich des DGGG 2022 in München [1]. Seit letztem Jahr gibt es in Deutschland eine Pille, die das Portfolio in der Kontrazeption in eine wichtige Richtung erweitert hat. Immer häufiger erlebe er im Alltag eine Hormonphobie und da sei es günstig, wenn man ein natürliches Hormon anbieten könne, sagte Römer.
Bisherige orale Estrogen-haltige Kontrazeptiva
Bisher war Ethinylestradiol (EE) der „Blockbuster“ bei den Estrogenen, der über die Zeit in immer niedrigeren Dosierungen eingesetzt wurde. EE verhindert die Verstoffwechselung des Estrogens in E2, E1 oder E1S, wird nur langsam metabolisiert und ist gut bioverfügbar. Daraus resultiert eine höhere biologische Aktivität als bei natürlichen Estrogenen. EE hat allerdings ein erhöhtes Risiko für das Auftreten venöser thromboembolischer Ereignisse (VTE).
Goldstandard mit dem niedrigsten VTE-Risiko ist EE–Levonorgestrel (LNG). Der Trend geht laut Römer aber hin zu natürlichen Estrogenen. Für die alternativen Präparate mit Estradiolvalerat–Dienogest (E2V/DNG) und Estradiol–Nomegestrolacetat (E2/NOMAC) zeigte sich in Postmarketingstudien ein VTE-Risiko wie bei EE–LNG.
Neu: E4-Drospirenon
Römer betonte, dass es biologisch plausibel sei, dass das natürliche Estrogen Estetrol (E4) ein besonders günstiges metabolisches Profil habe. „Wir erwarten auch hier gleiche oder vielleicht sogar bessere VTE-Ergebnisse, wenn Langzeitdaten vorliegen“, meinte er. E4 wird in dem neuen monophasischen oralen Kontrazeptivum Drovelis in der Dosis von 14,2 mg mit dem Gestagen Drospirenon (DRSP, 3 mg) kombiniert. Die ovulationshemmende Dosis liegt für Drospirenon bei 2 mg, die Ovulation wird also mit der neuen Pille sicher unterdrückt.
Das Gestagen hat neben der antiandrogenen Wirkung auch eine antimineralokortikoide Partialwirkung als Alleinstellungsmerkmal, die man klinisch in bestimmten Fällen nutzen kann, betonte Römer.
Das relativ hohe VTE-Risiko für DRSP gelte nur in Kombination mit EE, nicht zusammen mit E4, betonte Römer.
Natives Estrogen mit spezifischer Gewebewirkung
E4 wurde bereits 1965 als fetales Estrogen entdeckt. Es hat eine geringe Affinität zu den Estrogenrezeptoren (engl. estrogene receptors, ER), wobei E4 eine fünfmal stärkere Affinität für ERα im Vergleich zu ERβ aufweist [2]. Die Hypothese ist, dass die geringere Estrogenwirkung möglicherweise auch das VTE-Risiko senkt, erläuterte Römer.
Estetrol hat eine lange Halbwertszeit (etwa 28 Stunden) und wird nicht in Estriol oder Estradiol umgewandelt. Die Ausscheidung erfolgt überwiegend über den Urin, Interaktionen über Cytochrom-Enzyme der Leber sind nicht zu erwarten. Der Effekt von E4 ist je nach Rezeptorständigkeit an der Membran und in der Zelle gewebespezifisch unterschiedlich. Beispielsweise verhindert E4 die Ovulation durch das Fehlen oder die Antagonisierung der membranabhängigen Wirkung in den Ovarien. Durch die nukleäre ERα-Bindung im Uterus fördert Estetrol jedoch dort die Kontrolle des Menstruationszyklus und die Proliferation des Endometriums.
Effektivität von E4- DRSP
Phase-III-Studien zeigten sowohl in Europa und Russland als auch den USA und Kanada eine hohe kontrazeptive Wirksamkeit (Pearl-Index 0,44, bereinigt um Anwendungsfehler 0,26) [5,6]. Auch hier waren die Blutungen mehrheitlich zyklisch und planmäßig.
Die Rate an Zwischenblutungen nimmt über zwölf Zyklen deutlich ab und die Amenorrhö-Rate ist niedrig, betonte Römer [5]. Das ist seiner Erfahrung nach für die Akzeptanz bei einigen Patientinnen sehr wichtig.
Sicherheitsergebnisse
Die Häufigkeit unerwünschter Ereignisse – ähnlich der bei anderen oralen Kontrazeptiva berichteten – blieb unter 5%. Im gesamten Phase-II- und –III-Studienprogramm trat nur in einem Fall ein VTE auf, das auch das einzige behandlungsassoziierte schwere unterwünschte Ereignis war. Eine Phase-II-Studie verglich EE/LNG, EE/DRSP und E4/DRSP [7]. Dabei zeigten sich günstigere Gerinnungsparameter für E4/DRSP als für die EE-Kombinationen, sagte Römer.
Das VTE-Risiko liegt mit E4/DRSP nach den Daten der Zulassung bei 3,66 pro 10000 und damit unter dem Goldstandard EE/LNG (5-7 Frauenjahre). Allerdings sei die Fallzahl noch zu klein und die Anwendungsdauer noch zu kurz, um das VTE-Risiko des neuen oralen Kontrazeptivums abschließend zu beurteilen.
Hinweise für die Praxis
Die neue Pille ist Römers Einschätzung nach sowohl für die Erstverordnung als auch für den Wechsel von EE-Pillen geeignet. Insbesondere trifft das auf Frauen zu, bei denen unter einer reinen Gestagenpille Blutungen auftreten. „Da ist ein Hauch Estrogen gut, um die Blutungen zu stabilisieren“, sagte Römer.
Alle Kontraindikationen für Ethinylestradiol und E2-Pillen gelten auch für die E4-Pille, ergänzte er. Daher sollte keine Verordnung von E4/DRSP in Risikogruppen erfolgen.