
Am 7. Januar berichtete Dr. Leondios Kostrikis, Professor für Biowissenschaft und Leiter des Labors für Biotechnologie und Molekular-Virologie an der Universität von Zypern in Nikosia, im Lokalfernsehen über eine neue SARS-CoV-2-Variante. Kostrikis wollte mit seiner Forschungsgruppe mehrere SARS-CoV-2-Genome identifiziert haben, die sowohl Elemente der Delta- als auch der Omikron-Variante enthalten. Noch am selben Abend luden die Wissenschaftler 25 Sequenzen in die internationale und öffentlich zugängliche Genomdatenbank GISAID; einige Tage darauf weitere 27. Am 8. Januar griff die Finanznachrichtenagentur Bloomberg die Nachricht auf und berichtete über „Deltacron“ – viele weitere Medien folgten.
Fachwelt zweifelt
Schon rasch zweifelten Teile der wissenschaftlichen Gemeinschaft an der Richtigkeit der Nachricht. Etliche Fachleute erklärten sowohl in den sozialen Medien als auch in der internationalen Presse, dass die 52 Sequenzen nicht auf eine neue Variante hindeuten und sehr wahrscheinlich nicht das Ergebnis einer Rekombination von Omikron und Delta sind. Vielmehr soll es sich um ein Laborartefakt, basierend auf einer Verunreinigung, handeln. „Es gibt kein #Deltacron“, twitterte beispielsweise Krutika Kuppalli, Mitglied der COVID-19-Fachgruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit Sitz an der Medical University of South Carolina in Charleston am 9. Januar. „#Omicron und #Delta haben KEINE Super-Variante gebildet.“
So kam es zu der Fehlinformation
Die Historie, wie eine kleine Anzahl von SARS-CoV-2-Sequenzen in den Mittelpunkt einer kurzen und intensiven wissenschaftlichen Kontroverse geriet, ist kompliziert. Kostrikis erklärt, dass Aspekte seiner ursprünglichen Hypothese falsch interpretiert wurden. Trotz des verwirrenden Namens – den einige Medien so verstanden hätten, dass es sich bei den Sequenzen um die eines rekombinanten Delta-Omikron-Virus handeln würde – habe er nie behauptet, dass die Sequenzen eine Rekombination der beiden Virusvarianten darstellen. Dennoch wurden diese 72 Stunden nach ihrem Hochladen wieder aus der Datenbank entfernt.
Ein Fehler in der Sequenz?
Die Deltakron-Sequenzen wurden aus Virusproben gewonnen, die Kostrikis und sein Team im Dezember im Rahmen einer Studie zur Verfolgung der Verbreitung von SARS-CoV-2-Varianten in Zypern erhalten hatten. Bei der Untersuchung einiger Sequenzen fiel den Forschern eine Omikron-ähnliche genetische Signatur im Gen für das Spike-Protein auf, das dem Virus hilft, in Zellen einzudringen. In einer E-Mail an Nature erklärt Kostrikis, dass seine ursprüngliche Hypothese darin bestand, dass einige Delta-Viruspartikel unabhängig voneinander Mutationen im Spike-Gen entwickelt hätten, die denen von Omikron ähneln. Doch nach der breiten Berichterstattung verwiesen andere Wissenschaftler, die an der genetischen Sequenzierung und an COVID-19 arbeiten, auf eine andere Möglichkeit: einen Laborfehler.
Kontaminationen sind keine Seltenheit
Die Sequenzierung eines jeden Genoms hängt von Primern ab, das heißt kurzen, künstlich hergestellten DNA-Stücken, die durch Bindung an die Zielsequenz als Ausgangspunkt für die Sequenzierung dienen. Delta weist jedoch eine Mutation im Spike-Gen auf, die die Bindungsfähigkeit einiger Primer einschränkt, was die Sequenzierung dieses Genombereichs erschwert; Omikron hat diese Mutation nicht. Wenn also Omikron-Partikel aufgrund einer Kontamination in die Probe gelangt sind, könnte das sequenzierte Spike-Gen dem von Omikron ähneln, erklärt Jeremy Kamil, Virologe an der Louisiana State University Health Shreveport. Diese Art der Kontamination, so Kamil, ist „sehr, sehr häufig“.
Kostrikis lenkt ein
Anfangs schloss Kostrikis eine Fehlinterpretation aufgrund einer Verunreinigung aus. Mittlerweile aber sei er dabei, „alle kritischen Ansichten zu untersuchen, die von prominenten Wissenschaftlern auf der ganzen Welt zu meiner jüngsten Ankündigung geäußert wurden“. Weiterhin plane er, die Forschungsergebnisse zur Begutachtung einzureichen.
Wissenschaftlicher Austausch ist wichtig
Einerseits ist es lobenswert, dass ein möglicher Sequenzierungsfehler schnell aufgedeckt wird. Kamil und andere Forscher befürchten allerdings, dass Vorfälle wie dieser dazu führen könnten, dass zeitkritische Daten noch zögerlicher geteilt werden. „Man muss der wissenschaftlichen Gemeinschaft die Möglichkeit geben, sich selbst zu korrigieren“, findet der Virologe. Und weiter: „Bei einer Pandemie muss man den raschen Austausch von Virusgenomdaten erleichtern, denn nur so finden wir Varianten.“