Empfehlungen zur Triage bei COVID-19 erneuert

Bei knappen medizinischen Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie müssen Ärzte zwangsläufig darüber verfügen, welche Patienten intensivmedizinisch oder palliativ behandelt werden. Die Triage richtet sich in Deutschland nicht nach dem Alter oder einer Behinderung des Patienten.

Intensivstation

Hintergrund

Medizinisches Personal muss bei einem Anstieg von COVID-19-Patienten unter Umständen eine Entscheidung über das weitere Therapiemanagement treffen. Um diese zu erleichtern, haben Experten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) in Zusammenarbeit mit anderen Fachgesellschaften die klinisch-ethischen Entscheidungsempfehlungen in Form einer S1-Leitlinie erneuert. „Wir haben unter anderem deutlicher klargestellt, dass Grunderkrankungen und Behinderungen kein legitimes Kriterium für Triage-Entscheidungen sind. Zudem wurde die Prüfung des Patientenwillens vor der Aufnahme auf die Intensivstation stärker hervorgehoben“, erklärt Prof. Dr. Uwe Janssens, DIVI-Präsident und Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. Zudem führt er aus: „Wir Ärzte brauchen eine fachliche wie rechtliche Sicherheit bei der Patientenbehandlung in Extremsituationen. Dabei helfen die aktualisierten Empfehlungen.“

Triage – Entscheidung hängt nicht vom Alter ab

Der informelle Konsens der Expertengruppe liegt in der Gleichbehandlung. Die Entscheidung über intensivmedizinische Versorgung oder palliative Betreuung hängt hierzulande weder vom kalendarischen Alter oder sozialen Aspekten noch von der Grunderkrankung oder einer Behinderung ab. „Bei der klinischen Erfolgsaussicht geht es um die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient die aktuelle Erkrankung mithilfe der Intensivtherapie überleben wird. Die längerfristige Überlebenswahrscheinlichkeit und Lebensqualität spielen dabei keine Rolle“, erläutert Prof. Dr. Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München und Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin. Janssens fügt ergänzend hinzu: „Wir betonen ganz deutlich, dass aus Gründen der Gleichberechtigung im Falle einer notwendigen Triage immer eine Auswahl unter allen Patienten erfolgen soll, die eine Intensivbehandlung benötigen. Und das auch ganz unabhängig davon, ob der Patient gerade in der Notaufnahme, der Allgemeinstation oder der Intensivstation versorgt wird. Es ist auch ganz gleich, ob es sich um einen COVID-19-Infizierten, einen Schlaganfall-Patienten oder ein Unfallopfer handelt.“

Patientenwille entscheidend

Vor jeder intensivstationären Aufnahme und Beginn der Therapie muss neben der Indikation der Patientenwille überprüft werden. Patienten, die eine Intensivtherapie ablehnen, sollten auch nicht intensivmedizinisch behandelt werden. Hinweise darüber geben eine aktuelle Patientenverfügung oder früher mündlich geäußerte Wünsche sowie der mutmaßliche Willen.

Priorisierung nach klinischer Erfolgsaussicht

Die Priorisierung von Patienten orientiert sich nach der klinischen Erfolgsaussicht. Wenn nicht anders vermeidbar, werden diejenigen Patienten nicht intensivmedizinisch behandelt, bei denen nur eine sehr geringe Überlebensaussicht besteht. Die Einschätzung der klinischen Erfolgsaussicht ist für jeden Patienten individuell und sorgfältig zu prüfen. Bei der Priorisierung werden alle Patienten eingeschlossen, die der Intensivbehandlung bedürfen, unabhängig davon, wo sie gerade versorgt werden (Allgemeinstation, Notaufnahme/Intermediate-Care oder Intensivstation).

Aufgrund des Gleichheitsgebots ist:

  • eine Priorisierung nicht nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten vertretbar.
  • es nicht zulässig, aufgrund des kalendarischen Alters, sozialer Merkmale, bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen eine Priorität zu treffen.

Cave: Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden.

Entscheidungshilfen

Entscheidungen bezüglich einer intensivmedizinischen Versorgung oder palliativen Betreuung im Fall unzureichender intensivmedizinischer Kapazitäten sollten nach dem Mehraugen-Prinzip erfolgen, möglichst unter Beteiligung von:

  • zwei intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten, einschließlich Primär- und Sekundärbehandler beteiligter Fachgebiete
  • einem erfahrenen Vertreter des Pflegeteams
  • ggf. weiteren Fachvertretern, beispielsweise aus dem Bereich Klinische Ethik

Die Entscheidungen sind:

  • vorzugsweise im Konsens zu treffen
  • regelmäßig zu reevaluieren
  • bei Bedarf anzupassen
  • transparent gegenüber Patienten, Angehörigen und ggf. rechtlichen Stellvertretern zu kommunizieren
  • sachgerecht zu dokumentieren

Priorisierungskriterien

Priorisierungen müssen nach der bestmöglich verfügbaren Informationsgrundlage getroffen werden. Hierzu gehören:

  1. Informationen zum aktuellen klinischen Zustand des Patienten
  2. Informationen zum Patientenwillen (aktuell/vorausverfügt/zuvor mündlich geäußert/mutmaßlich)
  3. Anamnestische/klinische Erfassung von Komorbiditäten
  4. Anamnestische und klinische Erfassung des Allgemeinzustands (einschl. Gebrechlichkeit, z. B. mit der Clinical Frailty Scale)
  5. Laborparameter zu 1. und 3. (soweit verfügbar)
  6. Prognostisch relevante Scores (z. B. SOFA-Score)

Ferner sind aktuelle Erfahrungen und Erkenntnisse insbesondere zu Therapiemöglichkeiten und Erfolgsaussichten bei COVID-19 in die Entscheidung einzubeziehen.

Intensivbehandlung – Einschätzung der Erfolgsaussicht

Nach Einschätzung bezüglich der intensivmedizinischen Behandlungsnotwendigkeit muss die individuelle Aussicht auf Erfolg eingeschätzt werden. Dabei sind sich beeinflussende Faktoren wie Komorbiditäten und der gesundheitliche Allgemeinstatus zu berücksichtigen.

Indikatoren für eine schlechte Erfolgsaussicht einer Intensivtherapie sind:

• Aktuelle Erkrankung

  • Schweregrad der führenden Erkrankung (zum Beispiel ausgeprägte ARDS, schweres Polytrauma, starke Gehirnschädigung)
  • Begleitende akute Organversagen (zum Beispiel anhand des SOFA-Score ermittelt)
  • Prognostische Marker für COVID-19-Patienten (sobald verfügbar und entsprechend validiert)

• Vorhandensein schwerer Komorbiditäten, wenn diese in ihrer Schwere oder Kombination die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Intensivtherapie erheblich verringern

  • schwere Organ-Dysfunktion mit prognostisch eingeschränkter Lebenserwartung wie fortgeschrittene Herzinsuffizienz, schwere Lungenerkrankungen (zum Beispiel weit fortgeschrittene COPD oder beatmungspflichtige chronische respiratorische Insuffizienz) sowie fortgeschrittene Nierenerkrankung oder finales Leberversagen
  • weit fortgeschrittene neurologische Erkrankung 
  • weit fortgeschrittene Karzinomerkrankung
  • schwere und irreversible Immunschwäche
  • Multimorbidität

• Allgemeiner (prämorbider) Gesundheitsstatus

  • Gebrechlichkeit (zum Beispiel anhand der Clinical Frailty Scale)

Ergebnisse

Bei Aussichtslosigkeit (fehlende medizinische Indikation) erfolgt keine Intensivtherapie. Der Patient erhält eine adäquate Versorgung, einschließlich palliativer Maßnahmen.

Bei bestehender Erfolgsaussicht richten sich die Maßnahmen nach der Einwilligung oder dem Willen des Patienten.

• Sind intensivtherapeutische Maßnahmen nicht erwünscht, erfolgt eine individuelle Versorgung, einschließlich palliativer Maßnahmen.

• Bei fehlender Patientenverfügung/Einwilligung oder nicht ermittelbarem Patientenwillen erfolgt die Priorisierung (ausschließlich bei nicht ausreichenden Ressourcen!) nach Einschätzung der Erfolgsaussichten der möglichen Intensivtherapie:

  • im Hinblick auf ein realistisch erreichbares, patientenzentriertes Therapieziel
  • im Vergleich zur Erfolgsaussicht der Intensivtherapie für andere Patienten
  • unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Kapazitäten

Palliativbehandlung

Bei allen Patienten, die nicht oder nicht mehr intensivmedizinisch behandelt werden können/wollen, ist eine angemessene (Weiter-)Behandlung sicherzustellen. Zur Palliativversorgung von COVID-19-Patienten gelten die Empfehlungen der DGP.

Fazit

Bei Ressourcenknappheit intensivmedizinischer Therapieplätze (regional und überregional) muss zwangsläufig entschieden werden, welche Patienten eine Intensivtherapie erhalten und welche nicht. Das stellt das Behandlungsteam vor eine enorme emotionale und moralische Herausforderung. Transparente, medizinisch und ethisch gut begründete Priorisierungskriterien können die beteiligten Teams entlasten. Die Priorisierungen erfolgen dabei ausdrücklich mit der Zielsetzung, möglichst vielen Patienten eine Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen – nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten oder auszusortieren.

Autor:
Stand:
28.04.2020
Quelle:
  1. Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Pressemitteilung: Triage bei COVID-19: „Wir entscheiden nicht nach Alter oder Behinderung“ – Intensiv- und Notfallmediziner aktualisieren klinisch-ethische Entscheidungsempfehlungen, 23. April 2020.
  2. S1-Leitlinie: Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie, 17. April 2020.
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