
Hintergrund
Am 19. Mai 2021 wurden in Kalifornien 28 Schmerzkliniken, in denen annähend 20.000 Patienten behandelt worden waren, ohne Vorwarnung geschlossen. Schmerzpatienten unter Opioid-Langzeittherapie erhielten Medikamente für 30 Tage und die Empfehlung sich für die weitere Schmerztherapie an ihren Hausarzt oder andere Ärzte zu wenden. Viele dieser Patienten fanden rasch heraus, dass die meisten Ärzte nicht willens waren, in weiterhin Opioide zu verschreiben. Die Wartezeiten für Termine bei Schmerzspezialisten betrugen bis zu 6 Monate [1].
Opioidepidemie in den USA
In einem engagierten Kommentar im New England Journal of Medicine beschreiben Phillip O. Coffin vom San Francisco Department of Public Health und der University of California und Antje M. Barreveld von der Tufts University School of Medicine in Boston die verzweifelte Situation der kalifornischen Schmerzpatienten als nur ein Beispiel für die aktuelle, schwere Krise des US-amerikanischen Gesundheitssystems. Diese Krise ist, so die Autoren, auf Fehler beim Umgang mit der Opioidepidemie und ihrer Folgen in den USA zurückzuführen. Der Einsatz von Opioiden als Medikamente für nicht-tumorbedingte Schmerzen wurde in 1990iger Jahren liberalisiert. Unterstützt von einigen Pharmaunternehmen wurden Opioide als preisgünstige Methode zur Behandlung chronischer Schmerzen propagiert. Dies hatte ein starkes Ansteigen der Verordnungen und infolgedessen auch dem missbräuchlichem/abhängigem Gebrauch von Opioiden zur Folge.
Anstieg von opioidbedingten Todesfällen
Angesichts des enormen Anstiegs der Fälle von Überdosierungen und Todesfällen im Zusammenhang mit Opioiden schlugen die Centers for Disease Control (CDC) 2007 Alarm. Die Begriffe „Opioidepidemie“ oder „Opioidkrise“ zur Beschreibung der Situation kamen auf. Bald wurden die ersten Gegenmaßnahmen getroffen. Diese wurden jedoch in die Hände von Strafverfolgungsbehörden gegeben und nicht in die von Gesundheitsbehörden. Aus Angst vor Strafverfolgung verordneten immer weniger Ärzte Opioide und Apotheker nahmen mitunter keine Opioidrezepte mehr an.
Abnahme des Opioidgebrauchs
Tatsächlich konnten so die Verschreibungen für Opioide deutlich gesenkt werden. Ein weiterer Schritt in diese Richtung war die Leitlinie der CDC zur Verordnung von Opioiden, die klar machte, dass hochdosierte Opioide zur langfristigen Behandlung von Schmerzen bis auf seltene Ausnahmen nur bei Palliativpatienten indiziert seien. In ihrem Kommentar begrüßen Coffin und Barreveld diese Empfehlung der CDC grundsätzlich, weil sie sie für geeignet halten, dem Missbrauch von Opioiden in Zukunft vorzubeugen.
Zum zweiten Mal Opfer
Sie kritisieren aber harsch, dass die Schmerzpatienten, die in der Zeit der Liberalisierung kritiklos mit Opioiden versorgt wurden, heute bei einem Arztwechsel kaum noch die Chance haben, weiterhin ihre Medikamente zu bekommen und ohne gezielte Hilfestellung in eine verzweifelte Situation geraten können. Coffin und Barreveld schreiben: „Patienten, denen jahrelang Opioide verschrieben wurden, müssen anders behandelt werden, denn die Langzeitbehandlung mit Opioiden verursacht tiefgreifende physiologische und neurologische Veränderungen.“ Eine unreflektierte Reduktion der Opioiddosis oder ein plötzlicher Entzug nach einer Langzeittherapie ist mit erheblichen Risiken verbunden. Zu diesen Risiken zählen unter anderem die illegale Beschaffung von Opioiden, Überdosierungen, Hospitalisierungen, psychiatrischen Krisen sowie Todesfälle infolge von Überdosen oder Suizid.
Patientenzentrierte Hilfe
Coffin und Barreveld empfehlen beim Umgang mit Patienten unter Langzeitopioidtherapie, die zuvor von einem anderen Arzt behandelt wurden, folgendes schrittweises Vorgehen:
- Schritt 1: Wenn möglich Besprechung des Falls mit dem vorbehandelnden Arzt und Entwicklung eines Behandlungsplans, der nicht radikal vom vorangegangen Medikationsplan abweicht.
- Schritt 2: Therapeutische Brücken sollten bis zur Etablierung eines neuen Behandlungsplans angeboten werden, um die Risiken, die mit einem abrupten Stopp der Opioidtherapie verbunden sind, zu verringern.
- Schritt 3: Entwicklung eines patientenzentrierten Behandlungsplans. Eine partizipative Entscheidungsfindung ist insbesondere bei einer Reduktion oder dem Entzug der Opioid-Medikation wichtig. Ein erfolgreicher vollständiger oder teilweiser Entzug kann Jahre in Anspruch nehmen.
- Schritt 4: Feststellen, ob bei dem Patienten ein Fehlumgang mit Opioiden vorliegt. Falls erforderlich, den Patienten sofort über Medikationsoptionen informieren. Für Patienten kann es jedoch schwierig sein, zu akzeptieren, dass ihr Umgang mit den Opioiden problematisch ist. In diesen Fällen sollte man den Patienten Zeit geben.
- Schritt 5: Dokumentation des Behandlungsplans mit Begründung.
Politischer Appell
Erschwert wird die patientenzentrierte Herangehensweise, die übrigens auch von den CDC und der US Food and Drug Administration (FDA) empfohlen wird, in den USA jedoch durch Krankenversicherungen, Klinikverwaltungen und Strafverfolgungsbehörden. Coffin und Barreveld schreiben, dass Ärzte, die ihren Patienten Opioide verschreiben, mitunter Angst um ihre Approbation haben, von Arbeitgebern und Gesundheitsversorgern diszipliniert werden oder jeden Monat um die Kostenübernahme der Medikamente streiten müssen. Die Autoren appellieren daher an das Gesundheitswesen in den USA sich einer Schema-F-Behandlung von Schmerzpatienten unter Langzeittherapie mit Opioiden zu widersetzen, sich gegen übereifrige Regulierungsbehörden zu wehren und vor allem die Patienten nicht sich selbst zu überlassen.
Situation in Deutschland
In Deutschland gibt es keine Hinweise auf eine Opioidepidemie, die mit der Krise in den USA vergleichbar ist. Das bestätigt auch die 2. Aktualisierung der S3 Leitlinie „Langzeitanwendungen von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen [LONTS]“ von 2020. Dennoch gibt es auch in Deutschland Patienten, deren chronische Schmerzen seit Jahren mit Opioiden behandelt werden. Wechseln diese Patienten den Arzt, könnten einige der Empfehlungen von Coffin und Barreveld hilfreich sein. Aber auch Therapiefehlentwicklungen können eine Reduktion der Opioiddosis oder einen Entzug der Medikamente unter ärztlicher Begleitung erforderlich machen. Wichtig ist hierbei eine patientenzentrierte Vorgehensweise mit partizipativer Therapieentscheidung. Auf der AWMF-Webseite zur LONTS befindet sich ein Link zu einem Merkblatt mit Empfehlungen zur „Opioidentzugsbehandlung bei Schmerzpatienten“ [2,3,4].