Neue Praxisleitline für kindliche Adipositas

Adipositas ist ein weltweites Gesundheitsproblem. Sie beginnt immer häufiger bereits im Kindesalter. Die American Academy of Pediatrics hat deshalb nun eine Praxisleitlinie herausgegeben, wie Adipositas bei Kindern und Jugendlichen erkannt und behandelt werden sollte.

adipöses Kind Therapieerfolg

Übergewicht und Adipositas zählen zu den Volkskrankheiten weltweit. Bereits im Kindes- und Jugendalter sind immer mehr Menschen davon betroffen. Wer früh im Leben übergewichtig ist, hat oft ein hohes Risiko, dass Übergewicht und Adipositas chronisch werden und schwere Folgeerkrankungen nach sich ziehen. Deshalb sind Früherkennung und Behandlung bereits in diesem Alter besonders wichtig.

Die Entstehung der Adipositas ist multifaktoriell. Zu den Ursachen zählen unter anderem sozioökonomische Faktoren, genetische Einflüsse und Umweltfaktoren. Sie alle bergen ein gewisses Risiko der Stigmatisierung, da beispielsweise bestimmte Eigenschaften bezüglich Ethnizität, Familie, Alter oder Geschlecht mit einer Adipositas in Verbindung gebracht werden. Gleichzeitig werden Betroffene oft zusätzlich wegen ihres Gewichts stigmatisiert und erleben Mobbing und Ausgrenzung. Das kann zusätzlich zu Binge Eating und sozialer Isolation führen und dazu beitragen, dass noch weniger körperliche Aktivitäten stattfinden und das Gesundheitswesen gemieden wird. Selbst nicht-stigmatisierende Sprache kann starke emotionale Antworten, inklusive Trauer und Wut, hervorrufen. Das sollten in der Gesundheitsversorgung tätige Personen beachten, wenn sie mit übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen zu tun haben.

Basierend auf aktuellen Forschungsergebnissen hat die American Academy of Pediatrics deshalb eine Praxisleitlinie entwickelt, die 13 Schlüsselempfehlungen, sogenannte Key Action Statements, enthält. Die Empfehlungen gelten für Kinder und Jugendliche ab einem Alter von 2 Jahren. Eine primäre Prävention bietet die Praxisleitlinie nicht an. Sie soll jedoch helfen, möglichst frühzeitig gefährdete Kinder zu erkennen und zu behandeln.

Vor allem sollen Kinder und Jugendliche mit schwerer Adipositas eine möglichst optimale Behandlung erhalten. Dafür ist die Praxisleitlinie laut eigener Aussage kindzentiert und nicht daran gebunden, dass bestimmte Settings für die gesundheitliche Versorgung erst erfüllt sein müssen.

Key Action Statements

Alle Statements richten sich and Pädiaterinnen und Pädiater sowie andere in der pädiatrischen Gesundheitsversorgung Tätige. Übergewicht ist definiert als ein Body-Mass-Index (BMI) ≥85. Perzentile und <95. Perzentile, Adipositas als BMI ≥95. Perzentile. Von einer schweren Adipositas spricht die Praxisleitlinie ab einem BMI von 120% der 95.Perzentile, abhängig von Alter und Geschlecht.

1. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad B/Moderat)

Bei Kinder zwischen dem 2. und 18. Lebensjahr sollten mindestens jährlich Größe und Gewicht gemessen werden. Daraus sollte der BMI berechnet und mit Standardwerten verglichen werden. Liegt der BMI ≥85. Perzentile und <95. Perzentile, sollte auf Übergewicht gescreent werden, ab der 95. Perzentile auf Adipositas und bei einem BMI ≥120% der 95. Perzentile auf schwere Adipositas.

2. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad B/Stark)

Kinder und Jugendliche zwischen 2 und 18 Jahren mit Übergewicht und Adipositas sollten auf Adipositas-assoziierte Komorbiditäten untersucht werden. Dazu sollten eine umfangreiche Anamnese, ein Screening zur psychischen Gesundheit und zur Verhaltensgesundheit, sozialen Gesundheitsdeterminanten, eine körperliche Untersuchung und Diagnostik durchgeführt werden.

3. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad B/Stark)

Ab dem 10. Lebensjahr sollten adipöse Kinder und Jugendliche auf einen gestörten Glukosemetabolismus, Lipidstörungen und eine gestörte Leberfunktion untersucht werden. Besteht nur ein Übergewicht sollten mögliche Lipidstörungen ausgeschlossen werden.

3.1 Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad C/Moderat)

Ab dem 10. Lebensjahr und mit Übergewicht können bei Risikofaktoren für einen Typ-2-Diabetes oder eine nicht-alkoholische Fettleber-Erkrankung (NAFLD) auch der Glukosestoffwechsel und die Leberfunktion überprüft werden. Bei Kindern zwischen 2 und 9 Jahren und Adipositas kann ebenfalls überlegt werden, ob bereits auf Lipidstörungen getestet werden sollte.

4. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad A/Stark)

Übergewicht oder Adipositas sollten gleichzeitig mit den Komorbiditäten bei Kindern und Jugendlichen behandelt werden.

5. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad B/Stark für Kinder ≥10 mit Adipositas und Grad C/Moderat für Kinder 2-9 Jahre)

Ab dem 10. Lebensjahr sollte bei übergewichtigen und bei adipösen Kindern und Jugendlichen eine Dyslipidämie mittels Nüchternlipidpanel evaluiert werden. Bei adipösen Kindern zwischen dem 2. und 9. Lebensjahr kann bei Bedarf ebenfalls auf Dyslipidämie getestet werden.

6. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad B/Moderat)

Prädiabetes und/oder Diabetes mellitus sollten mittels Nüchternblutzucker, 2h-Plasmaglukose nach einem oralen Glukosetoleranztest mit 75 g Glukose oder mittels HbA1c evaluiert werden.

7. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad A/Stark)

Eine mögliche NAFLD sollte mittels Alanintransaminase (ALT)-Test überprüft werden.

8. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad C/Moderat)

Ab einem Alter von 3 Jahren sollte bei übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen bei jedem Besuch der Blutdruck gemessen werden, um auf Bluthochdruck zu untersuchen.

9. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad B/Stark)

Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen sollten nach den Prinzipien des Medical-Home- und dem Chronic-Care-Modell behandelt werden. Dazu zählen unter anderem ein familien-zentrierter und nichtstigmatisierender Ansatz, der Rücksicht nimmt auf die biologischen, sozialen und strukturellen Adipositastreiber.

10. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad B/Moderat)

Um Patientinnen und Patienten und ihre Familien in die Behandlung des Übergewichts und der Adipositas miteinzubeziehen, sollte eine motivierende Interviewtechnik gewählt werden.

11. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad B/Moderat ab dem 6. Lebensjahr; Grad C/Moderat für 2- bis 5-Jährige)

Ab dem 6. Lebensjahr sollte Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht oder Adipositas eine intensivierte Therapie des eigenen Gesundheitsverhaltens und des Lebensstils angeboten werden. Alternativ ist eine Überweisung hinzu einer solchen Therapie möglich. Bei 2- bis 5-Jährigen kann dies angeboten werden. Therapie von Gesundheitsverhalten und Lebensstil sind effektiver, wenn mehr direkter Kontakt besteht. Die effektivsten Behandlungen beinhalten mindestens 26 Stunden Präsenztherapie über einen 3- bis 12-monatigen Zeitraum, familienzentriert und mehrkomponentig.

12. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad B)

Ab einem Alter von 12 Jahren sollte Jugendlichen mit Adipositas eine gewichtsreduzierende Pharmakotherapie angeboten werden, die sich nach der Indikation, den Risiken und den Vorteilen der Medikation richtet. Sie stellt einen Zusatz zur Gesundheitsverhalten- und Lebensstiltherapie dar.

13. Statement (Evidenzqualität/Stärke: Grad C)

Ab einem Alter von 13 Jahren soll Jugendlichen mit schwerer Adipositas angeboten werden, sie zur Evaluation an ein lokales oder regionales multidisziplinäres Zentrum zu überweisen, das auf metabolische und bariatrische Operationen im Kindes- und Jugendalter spezialisiert ist.

Weitere Empfehlungen zu Risikofaktoren

Am Anfang sollte eine longitudinale Beurteilung der individuellen, strukturellen und kontextuellen Risikofaktoren erfolgen. Dadurch kann eine individualisierte und maßgeschneiderte Behandlung des Patienten mit Übergewicht oder Adipositas angeboten werden.

Weitere Empfehlungen zu Komorbiditäten

Es sollte eine Schlafanamnese erfolgen, die Symptome wie Schnarchen, Müdigkeit tagsüber, nächtliche Enuresis, morgendliche Kopfschmerzen und Unaufmerksamkeit bei Kindern und Jugendlichen mit Adipositas erhebt. Dadurch soll eine mögliche obstruktive Schlafapnoe evaluiert werden.

Besteht mindestens ein Symptom einer Atemstörung, sollte bei Kindern und Jugendlichen mit Adipositas ein Polysomnogramm erstellt werden.

Bei weiblichen Jugendlichen mit Adipositas sollten Zyklusunregelmäßigkeiten und Anzeichen eines Hyperandrogenismus (beispielsweise Hirsutismus, Akne) erhoben werden, um das Risiko eines polyzystischen Ovarialsyndroms zu evaluieren.

Kinder und Jugendliche mit Adipositas sollten hinsichtlich Symptome einer Depression überwacht werden. Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr sollten jährlich mithilfe einer Selbsteinschätzung auf Depressionen untersucht werden.

Als Teil der Adipositasuntersuchung sollte das muskuloskelletale System überprüft werden und eine körperliche Untersuchung stattfinden (beispielsweise durch Hüftrotation beim wachsenden Kind und Gangart). Bei Verdacht auf Epiphysiolysis capitis femoris sollten körperliche Aktivitäten umgehend und komplett eingeschränkt werden, Gehstützen zu vollständigen Entlastung verordnet werden und eine Überweisung an einen Orthopäden zur Überprüfung erfolgen. Falls kein Orthopäde verfügbar ist, kann in Erwägung gezogen werden, das Kind in die Notaufnahme zu schicken.

Bei neu aufgetretenen oder progressiven Kopfschmerzen und signifikanter Gewichtszunahme sollte immer auch an eine idiopathische intrakranielle Hypertonie gedacht werden. Dies trifft besonders auf weibliche Personen zu.

Weitere Empfehlungen zur Behandlung

Es sollte die bestmögliche intensive Therapie aller Kinder mit Übergewicht und Adipositas erfolgen. Kollaborationen mit anderen Spezialisten und Programmen in der Gesellschaft werden empfohlen.

Adipösen Kindern zwischen 8 und 11 Jahren kann möglicherweise eine gewichtsreduzierende Pharmakotherapie angeboten werden. Diese ist abhängig von der Indikation, dem Risiko und den Vorteilen der Medikation und sollte zusätzlich zu einer Therapie des Gesundheitsverhaltens und Lebensstils erfolgen.

Ende von „Watchful-Waiting“

Die Praxisleitlinie der American Academy of Pediatrics stellt das Ende der „Watchful Waiting“-Strategie dar, die lange Zeit bei kindlichem Übergewicht und Adipositas empfohlen wurde. Sie empfiehlt im Gegensatz dazu nun eine umfangreiche, multimodale und patientenzentrierte Behandlung, deren Fokus auf Lebensstil und Verhaltenstherapie liegt. Sie empfiehlt jedoch auch, bereits im Kindes- und Jugendalter eine gewichtsreduzierende Pharmakotherapie und metabolische oder bariatrische Operation in Erwägung zu ziehen.

Dieser Punkt und die sehr intensive empfohlene Therapie werden teilweise kritisch gesehen, da sie bei einigen Betroffenen unter anderem zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehung zum eigenen Körper führen könnten.

Autor:
Stand:
13.03.2023
Quelle:

Hampl S.E. et al. Executive Summary: Clinical Practice Guideline for the Evaluation and Treatment of Children and Adolescents With Obesity. Pediatrics, 09. Januar 2023; e2022060641, DOI: 10.1542/peds.2022-060641.

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