
Die Meldungen über Lieferengpässe bei Arzneimitteln nehmen seit einigen Jahren deutlich zu. Auch in der Öffentlichkeit ist die Aufmerksamkeit hierfür gestiegen, insbesondere mit dem seit Mitte des Jahres bestehenden Versorgungsengpass fiebersenkender Arzneimittel für Kinder. Aber auch Antibiotika für den pädiatrischen Bereich sowie unverzichtbare onkologische Arzneimittel wie Tamoxifen und Calciumfolinat sind betroffen. Zwar führt nicht jeder Lieferengpass auch zu einer kritischen Versorgungslage, dennoch sollten sie früh erkannt und gemildert bzw. beendet werden. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat daher in einem Eckpunktepapier verschiedene Maßnahmen ausgearbeitet, die in Zukunft zu einer besseren Arzneimittel- und damit Patientenversorgung beitragen sollen.
Ursachen für Lieferengpässe
Der Kostendruck auf Generika-Hersteller und die Globalisierung haben zu einer Verlagerung der Produktionsstätten insbesondere in Drittsaaten wie China oder Indien geführt. Häufig gibt es nur wenige Hersteller für bestimmte Wirk- und Rohstoffe. Bei Ausfällen, z. B. aufgrund von Qualitätsmängeln oder der Unterbrechung von Lieferketten, kann es daher schnell zu einem Engpass kommen. Das zeigt auch das Beispiel der Fiebersäfte für Kinder: Seit dem Frühjahr 2022 sind für die Versorgung mit Paracetamol-Säften nur noch zwei Unternehmen am Markt. Der einzige Hauptversorger stemmt etwa 90% der Produktion.
Weitere mögliche Ursachen sind unerwartet steigende Nachfragen, die beispielsweise ursächlich für den Engpass des Antidiabetikums Semaglutid (Ozempic) sowie des Zytostatikums Abraxane verantwortlich sind. Hinzu kommen Produktions- und Lieferverzögerungen für Ausgangsstoffe.
Maßnahmen des BMG
Das BMG schlägt zur Vermeidung und Bekämpfung von Lieferengpässen die folgenden Maßnahmen vor. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Versorgung pädiatrischer Patienten. „Wir haben es mit der Ökonomisierung auch in der Arzneimittelversorgung mit patentfreien Medikamenten übertrieben. Besonders bei Kinderarzneimitteln spüren wir die Konsequenzen gerade besonders hart. Dass man in Deutschland nur schwer einen Fiebersaft für sein Kind bekommt, der im Ausland noch erhältlich ist, ist inakzeptabel.“, so Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach
Keine Rabattverträge für unverzichtbare Kinder-Arzneimitteln
Der Beirat zu Liefer- und Versorgungsengpässen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) soll eine Liste von Arzneimitteln erstellen, die für die Sicherstellung der Versorgung von Kindern erforderlich sind. Für diese Arzneimittel sollen keine Rabattverträge und Zuteilung zu Festbetragsgruppen mehr erfolgen dürfen. Zudem wird das Preismoratorium angepasst, sodass die neue Preisobergrenze das 1,5-fache des aktuell bestehenden Festbetrags oder des Preismoratorium-Preises beträgt.
Die Gesetzliche Krankenversicherung soll für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und für versicherte Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr abweichend von §31 Absatz 2 Satz 1 SGB V (Sozialgesetzbuch) die Mehrkosten von ärztlich verordneten Arzneimittel bis zum 1,5-fachen Festbetrag, bei einer Abgabe von Arzneimitteln über Festbetrag, übernehmen.
Standortberücksichtigung bei Rabattvertragsausschreibungen
Um den Produktionsstandort EU zu stärken, sollen die Krankenkassen bei der Rabattvertragsausschreibung nach §130a Absatz 8 SGB V für patentfreie Arzneimittel künftig das Kriterium „Anteil der Wirkstoffproduktion in der EU“ einbeziehen. Zunächst beschränkt sich diese Regelung auf Arzneimittel zur Behandlung onkologischer Erkrankungen und Antibiotika, kann jedoch vom Beirat zu Liefer- und Versorgungsengpässen erweitert werden.
Außerdem wird für rabattierte Arzneimittel vertraglich eine mehrmonatige, versorgungsnahe Lagerhaltung vorgesehen.
Unterstützung bei geringer Anbieterzahl von Festbetrags-Arzneimitteln
Bei einem drohenden Versorgungsengpass soll der Beirat zu Liefer- und Versorgungsengpässen nach Prüfung der Lage den Festbetrag einmalig auf das 1,5-fache anheben (neuer Basispreis) oder die Festbetragsgruppe auflösen können. Voraussetzung ist eine geringe Anzahl Anbieter in dem betroffenen Marktsegment.
Auch soll die Grenze der Zuzahlungsbefreiung bei Festbeiträgen angehoben werden, sodass künftig Abgabepreise, die mindestens 20% niedriger sind als der Festbetrag, können von der Zuzahlung befreit werden. Dadurch sollen Marktaustritte verhindert werden.
Verbesserte Arzneimittelversorgung in Apotheken
Stellt der Beitrat zu Liefer- und Versorgungsengpässen des BfArM eine kritische Versorgungslage für ein Arzneimittel fest, soll der Austausch in Apotheken vereinfacht werden. Dazu werden die Regelungen nach §1 Absatz 3 der SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung (Abweichung von Rabattverträgen) verstetigt.
Muss dafür Rücksprache mit dem behandelnden Arzt gehalten werden, erhalten Apotheken einen Aufwandspauschale von 50 Cent.
Ist die Versorgung aufgrund von Liefer- und Versorgungsengpässen nur durch Auseinzelung möglich, sollen betroffene Patienten von der Zuzahlung entlastet werden. Weiterhin soll die Zuzahlung bei Abgabe von Einzelpackungen bei nicht lieferbaren verordneten größeren Packungen auf die Zuzahlung des verordneten Arzneimittels begrenzt werden.
Frühe Erkennung von Versorgungsengpässen
Um einen drohenden Versorgungsengpass frühzeitig verhindern zu können, sollen anhand von kontinuierlichen Marktbeobachtungen versorgungskritischer Arzneimittel Kriterien zur Identifizierung solcher Situationen entwickelt werden. Das BfArM kann dann Empfehlung an das BMG übermitteln, woraufhin das Ministerium weitere Wirkstoffe bzw. Indikationen den neuen Ausnahmeregelungen bei Festbeträgen, Rabattverträgen und bei der Apothekenabgabe unterstellen kann.
Des Weiteren erhält das BfArM zusätzliche Informationsrechte gegenüber pharmazeutischen Unternehmen und Großhändlern, insbesondere in Bezug auf die aktuellen Produktionsmengen nach Produktionsstandort und die Lagerhaltung von Wirkstoffen, Zwischenprodukten und Fertigarzneimitteln.
Evaluierung
Die getroffenen Maßnahmen sollen zum 31. Dezember 2025 hin evaluiert werden, um die Auswirkungen auf die Versorgungslage beurteilen zu können.
Kritik
Das Eingreifen des Bundesgesundheitsministeriums zur Vermeidung von Lieferengpässen wird in den Fachkreisen generell befürwortet. So findet beispielsweise Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika: „Das Bundesgesundheitsministerium hat endlich erkannt, dass das Hauptsache-Billig-Prinzip bei Generika die Versorgung destabilisiert hat und zu Engpässen führt. Es ist gut, dass es jetzt gegensteuert und in einzelnen Bereichen den extremen Kostendruck lockern will. Damit geht es an die Wurzel des Problems. Das ist vor allem mit Blick auf die Kinderarzneimittel richtig (…).“ Allerdings stoßen einzelne Punkte des Maßnahmenpakets auch auf negative Kritik.
Kurzfriste Lösungen
Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, bezeichnet die Erhöhung der Festbeträge für ausgewählte Arzneimittel als „kurzfristige Weihnachtsgeschenke für die Pharmaindustrie“. Es sei fraglich, dass dies zu einer Förderung des Produktionsstandortes EU und deren Arzneimittelversorgung führe. „Statt nur auf kurzfristige Effekte zu setzen, die dann die Krankenversicherten über ihre Beiträge finanzieren müssen, erwarten wir von der Politik eine strategische Herangehensweise für ganz Europa.“
Auch Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH) Dr. Hubertus Cranz erklärt, aktuelle Probleme dürften nicht allein eine Neustrukturierung des Bestandsmarktes bestimmen. „Während des Gesetzgebungsverfahrens sollten langfristig stabile Strukturen geschaffen werden.“
Risiko für Arzneimittelverfall
Zudem sieht Cranz die angedachte mehrmonatige, versorgungsnahe Lagerhaltung kritisch: „Hier besteht das Risiko, zu große Mengen vorzuhalten, die aufgrund begrenzter Haltbarkeit – wie bei den Corona-Impfstoffen – nachher verworfen werden müssen.“
ABDA-Präsidentin kritisiert Aufwandspauschale stark
Deutlich schärfere Worte findet hingegen die Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), Gabriele Regina Overwiening. Zwar begrüße die ABDA den Ansatz zur Vermeidung von Lieferengpässen grundsätzlich, insbesondere in Bezug auf die Entlastung der Patienten von Mehrkosten sowie die Änderung der Rabattverträge.
Die Aufwandspauschale von 50 Cent, die Apotheken erhalten sollen, wenn sie zum Austausch eines nichtverfügbaren, versorgungskritischen Arzneimittels mit dem behandelnden Arzt Rücksprache halten müssen, bezeichnet Overwiening allerdings als Frechheit. „Damit wird die Bürokratie noch erhöht, der teils stundenlange Arbeitsaufwand nicht einmal ansatzweise bezuschusst (…). Wenn in den nächsten Tagen alle Apotheken das Lieferengpassmanagement einstellen und keine Mühe mehr auf die Suche nach Ersatzpräparaten verwenden würden, müssten Politik und Kassen zusehen, wie die Arzneimittelversorgung in Deutschland zusammenbricht."
Startschuss für langwieriges Gesetzgebungsverfahren
Das Eckpunktepapier stellt erst den Startschuss zu einem mehrmonatigen Gesetzgebungsprozess dar. „Die Discounter-Politik hat die Arzneimittelversorgung kontinuierlich über Jahrzehnte verschlechtert. Das zurückzudrehen, geht nicht über Nacht.“, so Lauterbach.
Auch seitens Pro Generika heißt es „Der Spardruck der letzten Jahre hat (…) massive strukturelle Spuren hinterlassen, die nicht über Nacht beseitigt werden können. Eine Steigerung der Produktion bzw. ein Ausbau von Produktionskapazitäten nimmt Monate und zum Teil sogar Jahre in Anspruch.“ Daher sei jetzt kurzfristig wichtig, dass alle Akteure im Gesundheitssystem gemeinsam mit Verantwortungsbewusstsein und Pragmatismus zusammenarbeiteten, um die Patientenversorgung in Deutschland sicherzustellen.