
Aktuell wird unter Wissenschaftlern diskutiert, ob eine SARS-CoV-2-Infektion das Immunsystem schneller altern lässt und langfristig schwächen könnte. Hinweise darauf geben einzelne Studien und immunologische Befunde. Dafür würde auch die in diesem Winter ungewöhnlich früh einsetzende Grippewelle, überlappt mit Infektionen durch das Respiratorische Synzytialvirus (RSV), sprechen. Ebenso werden derzeit viele Streptokokken-Infektionen bei Kindern registriert. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichteten mehrere Länder der europäischen Region über einen Anstieg von schweren, teils tödlich verlaufenden Erkrankungen durch invasive Gruppe-A-Streptokokken-Infektionen, darunter Frankreich, Irland, Niederlande, Spanien, Schweden und das Vereinigte Königreich. Der Anstieg betrifft vor allem Kinder unter zehn Jahren [1].
Naive Immunzellen können nicht unbegrenzt nachproduziert werden
Der Virologe Professor Dr. Christian Drosten von der Berliner Charité erklärte kürzlich in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“: „Vereinfacht gesagt haben junge Menschen viele naive Immunzellen. Diese reifen mit zunehmenden Kontakten zu Erregern zu Gedächtniszellen, und die naiven Immunzellen können nicht unbegrenzt nachproduziert werden.“
Man könnte sich nun fragen, „ob ein ungeimpftes Kind nach Infektion vielleicht mit 30 das Immunsystem eines 80-Jährigen haben wird“, eskalierte der Virologe die Situation. Damit wäre die Durchseuchung der Kinder „ein riesiger Fehler“ gewesen. Das wäre zwar ein extremes Szenario, müsse aber mit erwogen werden [2].
T-Zell-Veränderungen nach Covid-19
Hinweise auf eine Alterung des Immunsystems durch wiederholte SARS-CoV-2-Infektionen finden sich auch in einem im „Nature Reviews Microbiology“ erschienenen Übersichtsartikel zu Long-Covid. So beschreiben die Wissenschaftler um den US-amerikanischen Kardiologen Professor Dr. Eric Topol vom Scripps Research Translational Institute in La Jolla auffällige T-Zell-Veränderungen, die in Studien mit leicht an akutem Covid-19 erkrankten Menschen mit Long-Covid gefunden wurden.
Unter anderem handelte es sich um erschöpfte T-Zellen, eine verringerte Anzahl von CD4+- und CD8+-Effektor-Gedächtniszellen und eine erhöhte PD1-Expression auf zentralen Gedächtniszellen. Weiter berichten sie über Befunde mit hoch aktivierten angeborenen Immunzellen, einen Mangel an naiven T- und B-Zellen und eine erhöhte Expression von Typ-I- und Typ-III-Interferonen [3].
Immunologische Fehlfunktion bleibt acht Monate bestehen
Ähnliche Erkenntnisse erlangten Forschende um Dr. Chansavath Phetsouphanh vom The Kirby Institute der University of New South Wales in Sydney, Australien. Laut einer im „Nature Immunology“ publizierten Studie fanden sich Hinweise auf anhaltende Entzündungsreaktionen bei Long-Covid-Patienten nach leichten bis mittelschweren akuten Covid-19-Verläufen, die bis zu acht Monaten anhalten und weder bei Menschen ohne Long-Covid noch bei anderen Coronaviren auftreten würden [4].
Befunde nicht überinterpretieren
Prof. Dr. Christine Falk, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Immunologie und Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung, warnt vor einer Überinterpretation der Studienergebnisse. Die Veränderungen im Immunsystem würden sich vor allem für Laien dramatisch anhören, sagte sie kürzlich in einem Interview bei „Zeit online“. Meist seien sie aber für diese nur schwer bis gar nicht interpretierbar. Zudem bezögen sich viele Beobachtungen auf Long-Covid-Patienten. Falk zufolge gibt es für die meisten Menschen „aktuell keinen Grund, sich Sorgen zu machen, dass ihr Immunsystem nach einer oder mehreren Coronainfektionen schlechter funktioniert“ [5].
Abwehrfehlfunktion möglicherweise nur kurzfristiges Phänomen
Auch Drosten relativiert die Situation. Es sei zu bedenken, dass keine andere Infektionskrankheit so gut erforscht ist wie SARS-CoV-2. Deshalb wäre es gut möglich, dass es sich bei anderen Infektionen ebenso verhält und „das Phänomen nach zwei, drei Jahren verschwindet.“ [2]
Immunabwehr normalisiert sich bei den meisten Menschen
Kurzfristige Veränderungen in der Immunabwehr nach einer Infektion sind normal. Sie zeigen lediglich an, dass das Immunsystem so arbeitet, wie es sollte, sagte die britische Immunologin Professor Dr. Sheena Cruickshank von der Universität Manchester kürzlich auf dem Nachrichtenportal „The Conversation“. Bei den meisten Menschen kommt das Abwehrsystem nach der Genesung von Covid-19 aber wieder ins Gleichgewicht, so Cruickshank [6].
Selbst bei dem Großteil der Menschen mit gesundheitlichen Komplikationen, die anfälliger für einen schweren Covid-19-Verlauf sind, normalisiert sich das Immunsystem innerhalb der nächsten zwei bis vier Monate. Nur bei einer sehr kleinen Gruppe von PatientInnen, insbesondere bei denen, die einen schweren Coronaverlauf hatten oder unter medizinischen Problemen litten, bleiben einige Veränderungen über sechs Monate nach der Infektion hinaus bestehen, heißt es in dem Artikel [6].
Für die meisten Menschen gibt es derzeit aber keine Anhaltspunkte für eine Schädigung des Immunsystems nach einer SARS-CoV-2-Infektion. Auch gäbe es keine Daten, die auf eine Immunschwäche bei PatientInnen mit Long-Covid hinweisen, beruhigt die Immunologin [6].