
Hintergrund
Einige Patienten entwickeln nach einer COVID-19-Erkrankung neurologische und psychiatrische Krankheiten. Wie hoch die Erkrankungsgefahr tatsächlich ist, untersuchten Wissenschaftler in einer großen Beobachtungsstudie mit über 1,2 Millionen Corona-Infizierten.
Das Team um Professor Paul Harrison von der Universität Oxford nutzte Zahlenmaterial des in den USA ansässigen TriNetX-Netzwerks für elektronische Gesundheitsdaten, um neurologische und psychiatrische Diagnosen über einen Zeitraum von 24 Monaten zu untersuchen. Demnach bleibt das Risiko für Demenz, Psychosen oder Krampfleiden bis zu zwei Jahre nach einer SARS-CoV-2-Erkrankung erhöht. Das Risiko für Angststörungen und Depressionen sinkt schon nach zwei Monaten. Die Ergebnisse der Studie sind im Lancet Psychiatry publiziert.
Methodik
In die Studie flossen Daten von über 1,2 Millionen Patienten mit laborbestätigter SARS-CoV-2-Infektion ein. Darunter waren mehr als 185.000 Kinder, 856.000 Erwachsene bis 64 Jahre und 242.000 Senioren im Alter ab 65 Jahren. Den Probanden wurde im Verhältnis 1:1 eine gematchte Kontrollperson ohne COVID-19, aber mit einer anderen Atemwegsinfektion in der Vorgeschichte, gegenübergestellt. In beiden Gruppen wurde die Erkrankungswahrscheinlichkeit von 14 neurologischen und psychiatrischen Diagnosen nach einer SARS-CoV-2-Infektion bewertet und verglichen. Schließlich analysierten die Forscher die allgemeinen Risikoprofile direkt vor und nach dem Auftreten der SARS-CoV-2-Virusvarianten Alpha (B.1.1.7), Delta (B.1.617.2) und Omikron (B.1.1.529).
Ergebnisse
Die Erkrankungsgefahr für die häufigsten psychiatrischen Störungen normalisierte sich ein bis zwei Monate nach durchgemachter COVID-19-Erkrankung (Gemütsstörungen nach 43 Tagen, Angststörungen nach 58 Tagen). Im Gegensatz dazu war das Risiko für kognitive Defizite (bekannt als Gehirnnebel bzw. brain fog), Demenz, psychotische Störungen und Epilepsie oder Krampfanfälle am Ende des zweijährigen Nachbeobachtungszeitraums immer noch erhöht.
Analyse nach Altersgruppen
18- bis 64-Jährige hatten zwölf bis 24 Monate nach der Infektion ein erhöhtes Risiko für kognitive Störungen und Bewusstseinstrübung. Verglichen mit der Kontrollgruppe wurden 640 vs. 550 Fälle pro 10.000 Teilnehmer registriert. Bei neuromuskulären Erkrankungen waren es 44 vs. 32 Fälle pro 10.000.
In der Kohorte ab 65 Jahren gab es im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich mehr Störungen: Bewusstseinstrübung (1.540 vs. 1.230 pro 10.000), Demenz (450 vs. 330 pro 10.000) und Psychosen (85 vs. 60 pro 10.000). Ein beträchtlicher Anteil der älteren Erwachsenen, die in beiden Kohorten eine neurologische oder psychiatrische Diagnose erhielten, starb anschließend – insbesondere diejenigen, bei denen eine Demenz oder Epilepsie bzw. Krampfanfälle diagnostiziert wurde.
Risikoverläufe von Kindern und Erwachsenen
Insgesamt waren Kinder nach einer COVID-19-Erkankung seltener von neurologischen und psychiatrischen Diagnosen betroffen als Erwachsene. Eine erhöhte Gefahr für Stimmungs- oder Angststörungen wurde nicht festgestellt. Allerdings war das Risiko für kognitive Defizite, Schlaflosigkeit, intrakranielle Blutungen, ischämische Schlaganfälle, Nerven-, Nervenwurzel- und Plexusstörungen, psychotische Störungen, Krampfanfälle und Epilepsie erhöht. Augenfällig waren die Zahlen für Krampferkrankungen (260 vs. 130 Fälle pro 10.000) und Psychosen (18 vs. 6 pro 10.000).
Auswirkungen der Virusvarianten
Unmittelbar vor und kurz nach dem Auftreten der Alpha-Variante ähnelten sich die Risikoprofile. Mit Erscheinen der Delta-Variante stieg das Risiko für ischämische Schlaganfälle (+27%), Epilepsie oder Krampfanfälle (+26%), kognitive Defizite (+38%), Schlaflosigkeit (+19%) und Angststörungen (+10%). Die Omikron-Variante barg ein ähnliches Risiko für neurologische und psychiatrische Folgeerscheinungen wie die Delta-Mutation.
Fazit
Die retrospektive Analyse zeigte zwar eine vorübergehend erhöhte Inzidenz von Gemüts- und Angststörungen; im Vergleich zu anderen Atemwegsinfektionen war im Untersuchungszeitraum aber kein Gesamtüberschuss dieser Diagnosen erkennbar. Im Gegensatz dazu blieb das erhöhte Risiko für psychotische Störungen, kognitive Defizite, Demenz und Epilepsie oder Krampfanfälle durchgehend bestehen. Um Spätfolgen zu vermeiden, sollten COVID-19-Betroffene auch nach Abklingen der pandemischen Akutphase sorgfältig beobachtet werden, mahnen die Studienautoren.