
Während der COVID-19-Pandemie traten vermehrt neudiagnostizierte Diabetesfälle auf. Das geht unter anderem aus dem Gesundheitsbericht Diabetes 2022 hervor. Insbesondere der Bewegungsmangel während der Lockdowns wirkte sich negativ auf Stoffwechsel und Immunsystem aus. Zudem häufen sich Fallberichte, bei denen kurz nach einer SARS-CoV-2-Infektion eine Hyperglykämie und Insulinresistenz bei Patienten ohne Vorgeschichte von Diabetes mellitus auftrat. Ein kausaler Zusammenhang konnte bisher nicht bewiesen werden, wäre aber möglich. Eine Studie des Deutschen Diabeteszentrums (DDZ) untersuchte nun die Diabetesinzidenz von COVID-19-Patienten im Vergleich mit Betroffenen anderer viraler Atemwegsinfektionen.
Schädigung der Betazellen durch SARS-CoV-2
Es ist bekannt, dass der ACE2-Rezeptor, über den SARS-CoV-2 in die Wirtszellen gelangt, auch auf den insulinproduzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse exprimiert wird. Zudem könnte das Virus die Betazellen durch die Aktivierung proinflammatorischer Zytokine schädigen. Proinflammatorische Signalwege, die zu einer chronischen, niedriggradigen Entzündung im Fettgewebe führen, sind wichtige Faktoren bei der Entstehung von Insulinresistenz und Typ-2-Diabetes. Nach SARS-CoV-2-Infektionen wurden eine verringerte Anzahl von Insulinsekretionsgranula in Betazellen und eine beeinträchtigte glukosestimulierte Insulinsekretion beobachtet. Es ist jedoch unklar, ob solche Stoffwechselveränderungen vorübergehend sind oder ob Personen mit COVID-19 ein erhöhtes zukünftiges Risiko für einen persistierenden Diabetes haben.
Zielsetzung
In einer retrospektiven Kohortenstudie des Deutschen Diabeteszentrums (DDZ) wurde daher das Auftreten von Diabeteserkrankungen nach COVID-19 bei Personen mit meist mildem Verlauf untersucht. Dabei wurden die Patienten mit Personen verglichen, die eine akute Infektion der oberen Atemwege (acute upper respiratory tract infection, AURI), die ebenfalls häufig durch Viren (z. B. Rhinoviren) verursacht werden, aufwiesen.
Methodik
Es wurden repräsentative Daten von Patienten der bundesweiten Datenbank »Disease Analyzer« (IQVIA Frankfurt) ausgewertet, die zum Zeitpunkt der Analyse (März 2020 bis Januar 2021) 1171 Arztpraxen in ganz Deutschland und 8,8 Millionen Patienten umfasste. In der Datenbank werden Arzneimittelverordnungen, Diagnosen und grundlegende medizinische und demografische Daten erfasst. Ein neu diagnostizierter Diabetes wurde anhand von ICD-10-Codes (Typ-2-Diabetes: E11; andere Diabetesformen: E12-E14) während der Nachbeobachtung definiert.
Die beiden untersuchten Kohorten umfassten Personen mit neu diagnostiziertem COVID-19 (ICD-10-Code U07.1, WHO) oder AURI (J00-J06) mit Indexdaten der ersten Diagnose zwischen dem 1. März 2020 und dem 31. Januar 2021. Die Nachbeobachtung erfolgte maximal bis zum 31. Juli 2021.
Personen mit einer Vorgeschichte von COVID-19 (ICD-10-Codes U07.1, U08.9, U09.9, U99.0) oder bestehender Diabetesdiagnose (E10-E14) innerhalb von 365 Tagen vor den Indexdaten wurden ausgeschlossen. Dies galt ebenso für Personen, die innerhalb von 30 Tagen nach den Indexdaten Glucocorticoide (Dexamethason, Hydrocortison, Methylprednisolon oder Prednison) verschrieben bekamen.
Es wurde ein Propensity-Score-Matching (1:1) auf der Grundlage von Geschlecht, Alter, Krankenversicherungsschutz, Indexmonat und Komorbidität (Adipositas, Bluthochdruck, Hyperlipidämie, Herzinfarkt, Schlaganfall) durchgeführt. Durch eine Anpassung von Poisson-Regressionsmodellen wurden die Inzidenzratenverhältnisse (IRR) für Diabetes ermittelt.
Ergebnisse
Zwischen März 2020 und Januar 2021 wurden 35.865 Personen mit COVID-19 in der Datenbank erfasst. Diese wurden mit 35.865 Patienten mit AURI und demografisch und klinisch ähnlichen Merkmalen verglichen. Das Durchschnittsalter betrug 42,6 Jahre, 45,6% der Personen waren weiblich.
Die Nachbeobachtungsdauer betrug in der COVID-19-Gruppe im Median 119 Tage (IQR 0-210, min. 0, max. 501 Tage) und in der Kontrollgruppe 161 Tage (IQR 4-225, min. 0, max. 514 Tage).
Die Anzahl der Arztbesuche während der 365 Tage nach dem Indexdatum war in beiden Gruppen ähnlich (COVID-19: 6,7 ± 11,7; AURI: 6,8 ± 10,6). Auch die Zahl der Krankenhausaufenthalte war in beiden Gruppen während der Nachbeobachtungszeit vergleichbar (COVID-19: 3,2 %; AURI: 3,1 %).
Diabetesinzidenz
Die Analyse zeigte eine höhere Inzidenz für Typ-2-Diabetes und andere Diabetesformen in der COVID-19-Gruppe über den gesamten Analysenzeitraum. Der Unterschied war allerdings nur bei Typ-2-Diabetes statistisch signifikant (T2DM: COVID-19-Gruppe 15,8/1000 Personenjahre; AURI-Gruppe 12,2/1000 Personenjahre; IRR 1,28, 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,05-1,57). Auch in Bezug auf das diabetesfreie Überleben zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen bei Typ-2-Diabetes (p=0,016), während für andere Formen oder nicht spezifizierten Diabetes keine Unterschiede festgestellt wurden. Die Typ-1-Diabetes-Inzidenz wurde aufgrund der geringen Fallzahl nicht untersucht.
Stärken und Schwächen der Studie
Die Stärken der Studie liegen in der Verwendung einer landesweiten und repräsentativen Primärversorgungsdatenbank mit entsprechenden Daten zu Diagnosen und Arzneimittelverordnungen. Die Anzahl der untersuchten Personen war größer als in vorangegangenen Studien und betrachtete insbesondere Hausarztbesuche. Durch die Verwendung von Originaldaten wurde eine Verzerrung durch falsche Erinnerungen vermieden.
Bei der Betrachtung der Ergebnisse sollten jedoch auch die Limitationen der Studie berücksichtigt werden. Dazu zählt beispielsweise, dass keine bzw. unvollständige Informationen über Krankenhausaufenthalte und Personen mit einer COVID-19-Diagnose außerhalb der hausärztlichen Praxis erfasst wurden. Auch Diagnosedaten von externen Fachärzten und Krankenhäusern konnten nur berücksichtigt werden, wenn diese durch den Hausarzt in die Datenbank eingepflegt wurden. Diese Verzerrung fand jedoch wahrscheinlich in beiden Gruppen in ähnlichem Maße statt.
Negative SARS-CoV-2-Tests wurden in den Praxen nur bei 36% (n=12.981) der AURI-Gruppe innerhalb von 365 Tagen nach dem Indexdatum erfasst. Der Body-Mass-Index (BMI) wurde aufgrund fehlender Daten nicht kontrolliert. Außerdem konnte die Anzahl der zensierten Patienten aufgrund von Praxiswechsel oder Tod nicht ermittelt werden.
Fazit
Die Studie weist auf einen zeitlichen Zusammenhang zwischen meist leichtem COVID-19 und neu diagnostiziertem Typ-2-Diabetes hin. Das relative Risiko einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln war bei Patienten mit COVID-19 im Vergleich zu solchen mit anderen, hauptsächlich viralen Atemwegsinfektionen um etwa 28% erhöht. „Diese Risikoerhöhung erscheint zunächst gering“, so Professor Dr. med. Wolfgang Rathmann, stellvertretender Direktor des Instituts für Biometrie und Epidemiologie am Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ), Leibniz-Zentrum für Diabetes-Forschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Erstautor der Studie. „Doch damit haben wir eine neue Risikogruppe für Typ-2-Diabetes. Und das werden alle Menschen sein, die sich mit COVID-19 infiziert haben und infizieren werden. In Deutschland sind das zum jetzigen Zeitpunkt über 22 Millionen Menschen.“.
Allerdings bleibt die Frage offen, ob sich der Stoffwechsel mit der Zeit wieder normalisiert oder der Diabetes bestehen bleibt.
Diabetes-Screening nach COVID-19
Die Deutsche Diabetesgesellschaft (DDG) fordert in einer Pressemitteilung auf Grundlage der vorliegenden Studienergebnisse standardmäßig ein Diabetes-Screening bei Patienten nach einer Infektion, insbesondere mit dem Coronavirus, durchzuführen.
„Abgeschlagenheit, Müdigkeit und Schwäche sind Symptome, die sowohl bei Typ-2-Diabetes als auch nach einer COVID-19 Erkrankung als Corona-Langzeitfolge auftreten können“, erklärt Professor Dr. med. Baptist Gallwitz, Stellvertretender Direktor an der Medizinischen Klinik IV des Universitätsklinikums Tübingen und Pressesprecher der DDG. Er rät daher Betroffenen und behandelnden Ärzten, auch an das Neuauftreten eines Diabetes zu denken.
DDG fordert umfangreiches Präventionsprogramm
Zwar werden weitere Untersuchungen benötigt, um den Zusammenhang von Infektionserkrankungen und Diabetes mellitus zu verstehen, „wir können es uns jedoch nicht leisten abzuwarten, bis es möglicherweise zu spät ist. (…) Wir brauchen ein umfangreiches Maßnahmenbündel zur Prävention und Behandlung von Diabetes.“, betont Professor Dr. med. Andreas Fritsche, Vizepräsident der DDG vom Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen des Helmholtz-Zentrums München an der Universität Tübingen.