
Immer mehr Eltern geben ihren Kindern bei Schlafstörungen Melatonin. In den USA wie auch in Deutschland ist das „Schlafhormon“ ohne Rezept in Form von Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) erhältlich.
Judith Owens, MD, MPH, Direktorin des Zentrums für pädiatrische Schlafstörungen am Boston Children’s Hospital und Professorin für Neurologie an der Harvard Medical School, beobachtet den zunehmenden Konsum mit Sorge. In einem Interview wies die Ärztin darauf hin, dass Melatonin kein Wundermittel sei.
Zunehmende Nachfrage
Und doch vertrauen immer mehr Menschen auf melatoninhaltige Produkte. National Health Interview Survey-Daten zeigen, dass die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 4 bis 17 Jahren von 2007 (0,1%) bis 2012 um das Siebenfache (0,7%) zugenommen hat. Bei Erwachsenen lag gemäß den Erhebungen vom National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES) der Konsum 2017/2018 bei 2,1% und hat sich damit seit der Jahrtausendwende verfünffacht.
Die NHANES-Umfragen zeigen auch, dass immer mehr Erwachsene, nämlich einer von acht Melatonin-Anwendern, hohe Dosen von über 5 mg einnehmen. Das erhöht den Melatoninspiegel im Serum weit über die typischen nächtlichen Spitzenkonzentrationen hinaus.
Trend setzt sich fort
Ein Ende des Melatonin-Trends ist noch nicht in Sicht. Das Marktforschungsunternehmen Technavio prognostiziert ein anhaltendes Wachstum bis 2026. Als Gründe führt es an, dass die alternde Bevölkerung häufiger von Schlafstörungen betroffen sei und der zunehmend hektische Lebensstil vermehrt zu Angstzuständen und Schlafstörungen führen könne.
Owens, die auch Präsidentin der International Pediatric Sleep Association ist, fürchtet potenzielle Schäden, die die Einnahme von Melatonin ohne ärztliche Aufsicht insbesondere bei höheren Dosen und langfristig verursachen könnte. Nur weil das Produkt rezeptfrei erhältlich sei, sei es nicht vollkommen harmlos, betonte auch die Seniorautorin der NHANES-Analyse, Naima Covassin, PhD, Assistenzprofessorin am Mayo Clinic College of Medicine und Science in Rochester, Minnesota, in einem Interview.
Melatonin – das Schlafhormon
Das natürlicherweise vom Körper in der Zirbeldrüse gebildete Melatonin helfe dabei, die täglichen zirkadianen Rhythmen des Körpers mit dem Licht-Dunkel-Zyklus zu synchronisieren, erklärte Covassin. Der Melatoninspiegel steigt einige Stunden vor dem Schlafengehen langsam an und bereitet den Körper so auf die nächtliche Ruhephase vor. Melatonin sei daher geeignet, die Einschlafzeit zu verändern. Es werde jedoch oft bei Schlafstörungen missbraucht.
Studien zeigen, dass Melatonin effektiv den Schlaf von Schichtarbeitern verbessern oder Jetlag lindern kann. Ein Best Practice Guide der American Academy of Sleep Medicine (AASM) empfiehlt Melatonin auch bei der REM-Schlaf-Verhaltensstörung. Dabei handelt es sich um eine Erkrankung, die ältere Erwachsene überproportional betrifft und dazu veranlasst, Trauminhalte in Form von heftigen, komplexen Bewegungen auszuleben.
Eine weitere Gruppe, die von der Einnahme profitieren könnte, seien Kinder mit bestimmten neurologischen Entwicklungsstörungen. Owens erklärte, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Melatonin mitunter verzögert freisetzten, auch bei Autismus könne Melatonin zur falschen Tageszeit ausgeschüttet werden. Eine Practice Guideline der American Academy of Neurology empfiehlt Melatonin bei Kindern mit Autismus, wenn andere Optionen wie Verhaltensansätze nicht ausreichend helfen. Einem aktuellen Review zufolge gibt es auch Hinweise, dass Melatonin die Verzögerung des Einschlafens bei Kindern mit ADHS reduzieren könnte.
Limitationen der Evidenz
Die meisten Studien zur Anwendung von Melatonin bei Insomnien waren klein und von kurzer Dauer. Die gezeigten Vorteile, wie eine Verkürzung der Einschlafzeit um fünf bis acht Minuten seien laut Professorin Covassin gering. Eine Clinical Practice Guideline der AASM aus 2017 rät bei Erwachsenen mit Insomnien, die Schwierigkeiten beim Einschlafen oder Durchschlafen haben, von der Anwendung von Melatonin ab.
Eine empfehlenswerte medikamentöse Hilfe zur Langzeitanwendung bei Insomnien bei Kindern oder Erwachsenen gebe es nicht, sagte Jennifer Martin, PhD, Präsidentin der AASM und Professorin für Medizin an der David Geffen School of Medicine an der University of California, Los Angeles in einem Interview. Sie rät zunächst zu nicht-medikamentösen Ansätzen, die für die meisten Menschen auch funktionieren würden.
Schlafstörungen nehmen zu
In den USA leidet etwa ein Drittel der Erwachsenen unter Insomnien. Einem kürzlich erschienenen CDC-Bericht zufolge bekommt ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in den USA nicht ausreichend Schlaf. Ältere Erwachsene hätten eher Schlafstörungen, so dass die alternde US-Bevölkerung zu der Zunahme beitragen könne, sagte Phyllis Zee, MD, PhD, Direktorin des Center for Circadian and Sleep Medicine und Professorin für Neurologie an der Feinberg School of Medicine der Northwestern University, in einem Interview. Laut Covassin würden auch das Arbeiten rund um die Uhr sowie die ständige Nutzung sozialer Medien, wodurch die Nutzer auch nachts blauem Licht ausgesetzt seien, die endogene Melatoninproduktion hemmen.
Selbstmedikation im Trend
Die steigenden Raten von Schlafstörungen kombiniert mit dem zunehmenden Bewusstsein, dass schlechter Schlaf gesundheitliche Folgen habe, hätten dazu geführt, dass mehr Menschen eine Behandlung suchen, sagte Owens. Einige würden dann zu Melatonin greifen.
Die Pandemie könnte einige dieser Ursachen verschärft haben. In dieser Zeit hätten Schlafprobleme laut Martin zugenommen. Viele Betroffene wendeten lieber Nahrungsergänzungsmittel und Hausmittel an, statt sich professionelle Hilfe zu holen. Die Professorin glaubt, dass Sicherheitsbedenken gegenüber verschreibungspflichtigen Schlafmitteln dazu führen können, dass Patienten und Ärzte nach vermeintlich sichereren Alternativen suchen. So warnte beispielsweise 2013 die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA), dass die Verwendung von Zolpidem das Autofahren am nächsten Tag und die Aufmerksamkeit beeinträchtigen könnte. Ein Jahr später gab die Agentur eine ähnliche Warnung für Eszopiclon heraus.
Verschreibungen rückläufig
Seit 2019 gibt es umrahmte Warnhinweise auf den Etiketten von Eszopiclon, Zaleplon und Zolpidem. Sie weisen darauf hin, dass Menschen unter der Einwirkung der Substanzen komplexe Verhaltensweisen wie Autofahren oder Gehen im Schlaf zeigen könnten. Die FDA identifizierte 66 Fälle von komplexem Verhalten bei Benutzern über einen Zeitraum von 26 Jahren, die zu schweren Verletzungen führten, darunter 20 Todesfälle.
Die zunehmenden Sicherheitsbedenken könnten dazu geführt haben, dass zwischen 2011 und 2018 Schlafmittel wie Zolpidem weniger häufig verschrieben worden sind. Melatonin könne als sicher empfunden werden, da es „natürlich“ oder eine Ergänzung sei, sagte Zee. Auch ist das Mittel für Patienten in den USA ohne ärztliche Verschreibung erhältlich und somit leicht zugänglich.
Qualitätsbedenken
Die Zusammensetzung und Herstellungsprozesse sind bei Melatonin als NEM wenig reguliert. Eine kanadische Studie deckte beispielsweise auf, dass der Melatoningehalt bei einigen Produkten um bis zu 478% höher war als auf dem Etikett angegeben und zwischen den Chargen erheblich schwanken konnte. Acht von 31 getesteten Produkten enthielten auch Serotonin in potenziell klinisch signifikanten Dosen.
Die Schlafforscherin Owen kommentiert, dass Melatonin billig und verfügbar sei. Ihrer Meinung nach hätten die Hersteller eine hervorragende Arbeit geleistet, um die Mittel als sicher erscheinen zu lassen.
Nicht frei von Nebenwirkungen
Melatonin-Produkte seien laut Covassin zwar auch im Allgemeinen sicher und gut verträglich, aber auch nicht völlig unbedenklich. Mögliche Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schwindel oder Tagesmüdigkeit. In kleineren Studien wurden auch potenziell schwerwiegendere Folgen wie eine beeinträchtigte Glukosetoleranz, erhöhter Blutdruck und erhöhte Herzfrequenz bei Patienten erfasst, die gleichzeitig Melatonin und blutdrucksenkende Medikamente einnehmen.
Auch zur langfristigen Sicherheit sei wenig bekannt, sagte Covassin. So seien beispielsweise Langzeitstudien erforderlich, um die Auswirkungen von Melatonin auf die Pubertät zu beurteilen.
Zee wies daraufhin, dass hohe Dosen das Risiko von Nebenwirkungen erhöhen können. Die Zirbeldrüse setze Melatonin in Pikogramm-Werten frei. Zur Behandlung von Störungen der zirkadianen Verschiebung seien die Dosen in der Regel gering und lägen bei etwa einem halben Milligramm. Das liege weit unter dem, was in vielen OTC-Produkten enthalten sei.
Die Dosis und der Einnahmezeitpunkt können erhebliche Auswirkungen haben. So könne eine hohe Dosis Melatonin, die mitten in der Nacht eingenommen werde, zu morgendlicher Schläfrigkeit führen, bemerkte Zee. Melatonin zur falschen Tageszeit eingenommen könne somit die innere Uhr in die falsche Richtung verschieben.
Vergiftungen bei Kindern
Wie bei verschreibungspflichtigen Medikamenten können auch bei Melatonin unsachgemäßer Gebrauch oder Unvorsichtigkeit schwerwiegende Folgen haben. Zwischen 2012 und 2021 führte eine kindliche Melatonin-Einnahme zu 260.435 Anrufen bei US-amerikanischen Giftnotrufzentralen. Die meisten Kinder waren asymptomatisch und erholten sich zu Hause. Es wurden jedoch 4.097 ins Krankenhaus eingeliefert, 287 mussten auf der Intensivstation behandelt werden, fünf benötigten eine mechanische Beatmung und zwei starben.
Viele Produkte sprächen mit einem Fruchtgeschmack oder ihrer Darreichungsform als Gummibärchen oder in kaubarer Form gezielt Kinder an. Auch fehle es oft an einer kindersicheren Verpackung. Laut Owen würden Eltern, die ihrem Kind Melatonin als „Süßigkeit“ oder „Vitamine“ schmackhaft machten, damit möglicherweise eine falsche Botschaft aussenden.
Ursachen angehen
Besser als zu Mitteln mit zweifelhafter Sicherheit zu greifen, ist es, Schlafstörungen mit Verhaltensänderungen in den Griff zu bekommen.
Die AASM empfiehlt die kognitive Verhaltenstherapie bei Schlaflosigkeit als Erstlinientherapie für Erwachsene und Kinder mit Schlaflosigkeit. Dabei liegt der Schwerpunkt darauf, Gewohnheiten und Fähigkeiten zu erlernen bzw. zu etablieren, die den Schlaf verbessern können.
Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel, einschließlich Melatonin, könnten laut Owens unter bestimmten Umständen für Kinder geeignet sein. Als Beispiele nannte sie Patienten mit Autismus, Angstzuständen oder Depressionen. Wenn sie Melatonin empfiehlt, rät sie zu Produkten mit Melatonin in pharmazeutischer Qualität.
Das Mittel könne laut Owens auch zusammen mit Verhaltensinterventionen sinnvoll sein. Melatonin sei aber nicht mehr als ein Pflaster und behebe nicht die zugrunde liegenden, meist verhaltensbedingten Probleme.