
Bei der Behandlung von Allergien spielen Antihistaminika der ersten Generation nur noch eine untergeordnete Rolle. Sie werden aufgrund der zentralnervösen Wirkungen bei Schlafstörungen sowie Übelkeit und Erbrechen angewendet. Insbesondere bei älteren Menschen ist aufgrund der anticholinergen sowie sedierenden Effekte aber Vorsicht geboten. Verschiedene Listen potentiell inadäquater Medikation (PIM) bei der Behandlung von Älteren (PRISCUS, FORTA, Beers) führen Antihistaminika der ersten Generation auf. Aus diesem Grund kam das Risikopotential der Wirkstoffe in den Sitzungen des Sachverständigen-Ausschusses für Verschreibungspflicht (SVA) wiederholt zur Sprache. Der Vorschlag die apothekenpflichtigen Substanzen bei Patienten über 65 Jahren unter die Verschreibungspflicht zu stellen, wurde im Juni 2019 abgelehnt. Seitdem beschäftigt sich der Ausschuss aber weiterhin insbesondere mit den Wirkstoffen Doxylamin, Diphenhydramin und Dimenhydrinat.
Sturzrisiko durch Nebenwirkungsprofil
Das Nebenwirkungsprofil der Antihistaminika erster Generation wird wie bereits erwähnt insbesondere von den sedierenden und anticholinergen Eigenschaften bestimmt. Dazu zählen unter anderem Wirkungen wie Schläfrigkeit, Schwindel, Muskelschwäche, Kopfschmerzen und Sehstörungen. Damit assoziiert wird bei Älteren ein erhöhtes Risiko für Gleichgewichts- und Gangstörungen, Verwirrung, Delirium, Stürze und damit verbundene Frakturen.
Antihistaminika der ersten Generation
In den Sitzungen des SVA wurden aufgrund des breiten Einsatzes zunächst die Wirkstoffe Doxylamin, Diphenhydramin und Dimenhydrinat betrachtet.
Doxylamin
Doxylamin wird zur symptomatischen Kurzzeitbehandlung von Schlafstörungen, wie Ein- und Durchschlafstörungen angewendet. Präparate für Kinder bis einschließlich 18 Jahre unterliegen der Verschreibungspflicht (Votum 78. Sitzung des SVA). Es sind in Deutschland Monopräparate mit Dosierungen von 50-60 mg Doxylamin und Kombinationspräparate zur symptomatischen Behandlung von Erkältungskrankheiten mit Dosierungen von 7,5 mg Doxylamin im Handel.
Diphenhydramin
Diphenhydramin ist in Dosierungen von 25-50 mg vor allem bei Schlafstörungen als Monotherapie oder in Kombinationspräparaten bei erkältungs- bzw. schmerzbedingten Einschlafstörungen indiziert. Die Anwendung ist laut Produktinformtion auf zwei Wochen begrenzt.
Dimenhydrinat
Dimenhydrinat ist ein Salz aus den beiden Wirkstoffen Diphenhydramin und 8-Chlortheophyllin. Letzteres soll aufgrund seiner leicht anregenden Wirkung den sedierenden Eigenschaften des Diphenhydramins entgegenwirken. Das Arzneimittle ist indiziert zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen, insbesondere bei Reisekrankheit (Kinetose) sowie bei Schwindel.
In der Leitlinie „Übelkeit und Erbrechen“ der Deutschen Gesellschaft für Palliativ-medizin (DGP) wird Dimenhydrinat als Antiemetikum der ersten Wahl bei zentralnervöser Ursache der Übelkeit, einschließlich bewegungsbedingter Übelkeit empfohlen. Die übliche Dosierung beträgt 50 mg Dimenhydrinat oder bei Retardformulierungen 150 mg. Eine tägliche Höchstdosis von 300 mg bei Erwachsenen und 150 mg bei Kindern sollte nicht überschritten werden. Die Anwendungsdauer ist auf wenige Tage limitiert.
Begrenzte Datenlange
Das BfArM führte verschiedene Analysen durch, um die aktuelle Datenlage zu den Antihistaminika der ersten Generation abschätzen zu können.
Nebenwirkungsanalyse in EudraVigilance
In einer auf Deutschland begrenzten Analyse der europäischen Nebenwirkungsdatenbank EudraVigilance wurden sturzassoziierte Nebenwirkungsfälle ermittelt. Daneben wurden außerdem die von den Zulassungsinhabern zu den Wirkstoffen übermittelten Nebenwirkungen betrachtet. Es ließ sich kein erhöhtes Risiko für Stürze oder Schwindel, Desorientierung und Gleichgewichtsstörungen für Doxylamin, Diphenhydramin oder Dimenhydrinat feststellen. Allerdings war die Fallzahl der Verdachtsfälle nur im mittleren dreistelligen Bereich, der Anteil der Patienten über 65 Jahre lag bei etwas über 10%.
Analyse von Studiendaten
Vorhandene Studiendaten, auf die sich auch die PIM-Listen beziehen, ließen laut BfArM aufgrund ihrer Limitationen (geringe Patientenzahlen, kurze Studiendauer, keine Altersstratifizierung oder Berücksichtigung von Störfaktoren) keine Rückschlüsse auf ein erhöhtes Sturzrisiko bei Älteren zu. Dies bestätige auch die S3-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf/ Schlafstörungen“ der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). Hier wird zur Anwendung von Antihistaminika aufgrund der fehlenden Datenlage keine Empfehlung gegeben.
Bei der Beurteilung zur Anwendung von Dimenhydrinat beziehen sich die PIM-Listen aufgrund fehlender Studiendaten auf die Einschätzung von zahlreichen Experten.
Demenz durch anticholinerge Wirkung?
Unter den anticholinergen Nebenwirkungen wird in der Beers-Liste insbesondere auf die Gefahr der kognitiven Beeinträchtigung bis hin zu Demenz bei der Anwendung von Anticholinergika bei Älteren hingewiesen. Dabei beziehen sich die Autoren im Wesentlichen auf ein systematisches Review und eine prospektive Kohortenstudie, die ebenfalls verschiedene Limitationen aufweisen.
In einer 2018 vom Pharmacovigilance Risc Assessment Commitee (PRAC) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) beurteilten Studie zu diesem Thema, kam der Ausschuss zu dem Schluss, dass die Daten keine regulatorischen Konsequenzen rechtfertigten. In der Studie wurden die hier genannten Antihistaminika nicht explizit betrachtet.
Auch zwei Publikationen aus dem Jahr 2019 untersuchten einen substanz- und expositionsabhängigen Effekt von Anticholinergika auf das Auftreten von Demenzerkrankungen, lassen aber ebenso keine gesicherten Rückschlüsse darauf zu. Es wurde kein signifikanter Zusammenhang zwischen der (jahrelangen) Einnahme von Antihistaminika, einschließlich Diphenhydramin und Demenz gefunden. Weiterhin waren die Ergebnisse in Bezug auf Antiemetika wie Dimenhydrinat widersprüchlich. Die Ergebnisse könnten laut BfArM auch dahingehend interpretiert werden, dass die vermehrte Anwendung der Antihistaminika vielmehr als Indikator für eine bestehende bzw. sich anbahnende Demenzerkrankung zu sehen sei.
Fazit
Insgesamt gibt es aus Sicht des BfArM für Doxylamin, Diphenhydramin und Dimenhydrinat keine neuen belastbaren Daten, die eine Verschreibungspflicht dieser Antihistaminika bei Menschen ab 65 Jahren rechtfertigen. Im Vergleich zur langjährigen, etablierten Anwendung der Wirkstoffe gebe es zudem wenige Nebenwirkungsfälle und kaum belastbare Studiendaten. Dass aufgrund der anticholinergen und sedierenden Wirkungen ein potentielles Sturzrisiko für Ältere besteht, ist jedoch unstrittig. Es wird daher empfohlen Antihistaminika der ersten Generation so kurz wie möglich und maximal zwei Wochen bei Älteren Patienten anzuwenden, insbesondere bei der Behandlung von Schlafstörungen. Bei der Risikominimierung spielen sowohl die Patentenaufklärung durch den Hersteller als auch eine intensivierte Beratung in der Apotheke eine wichtige Rolle.