Unter dem Begriff der Polyneuropathie versteht man generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems (PNS). Hierzu werden alle Strukturen, die außerhalb der Zentralnervensystems liegen gezählt, also Teile der motorischen, sensiblen und autonomen Nerven mit ihren Schwann-Zellen und ganglionären Satellitenzellen, ihren bindegewebigen Hüllstrukturen (Peri- und Epineurium) inklusive der sie versorgenden Blut- und Lymphgefäße.
Einteilung
Zu den Polyneuropathien wird die distal symmetrische Polyneuropathie (PNP) gezählt. Diese beginnt an den Beinen. Eine weitere Polyneuropathie ist die Polyradikuloneuropathie mit proximalem und distalem Befall (manchmal auch inklusive Rumpf und Hirnnervenbeteiligung).
Zudem existiert die Mononeuropathia multiplex mit asymmetrischem Befall. Dieser ergibt sich daraus, dass gleichzeitig oder zeitlich versetzt mehrere Nervenstämme beteiligt sind. Am häufigsten findet man jedoch eine distal symmetrische sensomotorische Polyneuropathie mit vorwiegend sensibler Symptomatik.
Auch eine Small-fiber-Neuropathie ist häufig. Bei dieser Polyneuropathie sind überwiegend die dünnen und nicht myelinisierten Nervenfasern betroffen. Selten sind vorwiegend motorische Polyneuropathien oder ein Beginn an den Armen.
Epidemiologie
Polyneuropathien treten mit einer Prävalenz von 5-8 % auf. Etwa 11% der Diabetiker leiden an einer Polyneuropathie. Die Inzidenz liegt bei schätzungsweise 118/100.000. Männer sind mit 2:1 etwas häufiger als Frauen von einer Polyneuropathie betroffen. Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei etwa 65 Jahren.
Ursachen
Die Ursachen von Polyneuropathien sind vielfältig. Am häufigsten sind diabetische Polyneuropathien (30-40%). Diese sind gefolgt von Alkohol-induzierten und medikamentös bzw. toxisch-induzierten Polyneuropathien. Toxisch induzierte Polyneuropathie können beispielsweise durch Medikamente wie Antirheumatika/Immunsuppressiva wie z.B. Chloroquin, kardiovaskuläre Medikamente wie z.B. Amiodaron oder Antiinfektiva wie z.B. Chinolone ausgelöst werden. Auch Umweltgifte (z.B. Quecksilber, Blei, Arsen) können zum Auftreten einer Polyneuropathie führen. Ferner kann eine autoimmune Genese zu Grunde liegen. Auch hereditäre Ursachen können eine Rolle spielen.
Pathogenese
Eine Polyneuropathie kann entstehen, wenn Noxen primär die Nervenzelle, also das Motorneuron oder das Spinalganglienneuron, angreifen. Zudem kann sie durch Prozesse in der Nervenfaser (Axon und Schwann-Zelle) ausgelöst werden. Diese können unterteilt werden in Affektionen der epi- und endoneuralen Blutgefäße (z.B. Vaskulitis, periphere arterielle Verschlusskrankheit), der Markscheiden und Ranvierschen Schnürringe und der Axone.
Exemplarisch wird nachfolgend auf die Pathogenese drei der häufigsten Polyneuropathien eingegangen.
Diabetische Polyneuropathie
Bei der diabetischen Polyneuropathie geht man derzeit davon aus, dass axonale Strukturveränderungen als Folge komplexer Prozesse mit freien Radikalen, endoneuraler Hypoxie, Axontransportstörungen und nichtenzymatischer Proteinglykosylierung eine Rolle spielen. Zudem konnten auch Antikörper gegen die Glutamat-Decarboxylase und gegen sympathische Ganglien nachgewiesen werden.
Ferner wird die Sorbitol-Myoinositol-Na1/K1-ATPase-Hypothese diskutiert. Hier wird davon ausgegangen, dass durch die Hyperglykämie ein alternativer Weg der Glukoseverstoffwechselung beschritten wird. Dadurch kommt es zu einer intraneuralen Sorbitolakkumulation. Die folgende erhöhte Sorbitolkonzentration im Nerv führt zur Myoinositoldepletion. Myoinositol ist ein Bestandteil der Na1/K1-ATPase, die für die Nervenfunktion wichtig ist. Hierdurch resultiert eine Na1/K1-ATPase-Funktionsstörung, die eine Erschöpfung der Nervenzellen verursacht.
Alkohol-assoziierte Polyneuropathie
Die Pathophysiologie der Alkohol-assoziierten Polyneuropathie beruht auf Faktoren der Mangelernährung, insbesondere Mangel an B-Vitamin, und direkten toxischen Einflüssen des Alkohols sowie seinen Abbauprodukten wie Acetaldehyde. Auch oxidativer Stress ist beteiligt.
Der chronisch inflammatorischen demyelinisierenden Polyradikuloneuropathie (CIDP) liegt eine aberrierende Immunantwort auf zellulärer und humoraler Ebene zu Grunde. Die Immunantwort richtet sich gegen Antigene des peripheren Nervensystems. Die Hauptantigene sind derzeit noch unbekannt. Die CIDP tritt häufig in Assoziation mit anderen Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes mellitus, Hepatitis C, systemischer Lupus erythematodes und HIV-Infektion auf.
Symptome
Die Patienten einer Polyneuropathie können unter sensiblen, motorischen oder autonomen Reiz- und Ausfallerscheinungen leiden.
Sensible Reiz- und Ausfallerscheinungen
Die Patienten können unter Kribbeln, dem Gefühl des Ameisenlaufens, Wärme- und Kälteparästhesien leiden. Ferner kann ein stechendes oder elektrisierendes Gefühl auftreten. Auch glühend-brennende Schmerzen, die spontan und/oder bereits bei leichter Berührung, z.B. durch Kleidung, auftreten, können vorkommen. Zudem klagen die Patienten unter Juckreiz, Pelzigkeits-, Schwellungs- und Taubheitsgefühle. Es können auch das Gefühl des unangenehmen Drucks oder das Gefühl „wie auf Watte zu gehen“ auftreten. Die Patienten leiden häufig unter einer Gangunsicherheit insbesondere bei Dunkelheit. Auch Wunden, die nicht schmerzen und verminderte bis aufgehobene Temperaturempfindungen können vorkommen.
Motorische Reiz- und Ausfallerscheinungen
Eine Polyneuropathie kann zu Symptomen wie Muskelzucken (Faszikulationen), Muskelkrämpfen, Muskelschwäche oder auch einer Muskelatrophie führen. Als frühes Zeichen kann eine Parese der Zehenspreizer und Atrophie der kurzen Zehenextensoren auftreten.