
Die Wirkstoffe aus der Hanfpflanze kommen zum Einsatz, wenn der Leidensdruck des Patienten hoch und das analgetische Standardrepertoire ausgeschöpft ist. Empfohlene Indikationen für die Anwendung cannabishaltiger Arzneimittel sind therapierefraktäre neuropathische Schmerzen, chronische Schmerzen und Tumorschmerzen sowie schmerzhafte Spastiken bei fortgeschrittener Multiple Sklerose. Zudem werden Cannabis und Cannabinoiden positive Effekte bei Zytostatika- und Strahlentherapie-induzierter Übelkeit und Erbrechen sowie Lähmungen, Konvulsionen, ADHS, dem Tourette-Syndrom und Morbus Crohn bescheinigt. In der palliativen Therapie zeigen Cannabisprodukte bei AIDS und Karzinomerkrankungen gute Erfolge. Zur Verordnung zugelassen sind neben apothekenpflichtigen CBD-Präparaten und getrockneten Cannabisblüten das Oromukosalspray Sativex (Wirkstoff Nabiximols aus pflanzlichem THC und CBD) sowie Nabilon (vollsynthetisches THC-Derivat) und Dronabinol (teilsynthetisch hergestelltes THC) als Fertigarzneimittel.
Hanf als Heilpflanze
Der gewöhnliche bzw. echte Hanf (Cannabis sativa) ist eine Pflanzenart aus der Gattung Hanf (Cannabis) innerhalb der Familie der Hanfgewächse (Cannabaceae). Die Hanfpflanze wird schon sehr lange für Heilzwecke verwendet, aber auch als Genuss- und Rauschmittel – zum Beispiel als Marihuana (Cannabiskraut) und Haschisch (Cannabisharz). Überlieferte Einsatzgebiete sind Schmerzen, Spastiken, Epilepsie, Kachexie, Appetitlosigkeit, psychische Störungen, Erregungszustände und Einschlafschwierigkeiten. Die pharmakologischen Wirkungen sind auf sogenannte Cannabinoide zurückzuführen. Bislang konnten bereits mehr als Hundert dieser chemischen Verbindungen isoliert werden. Den größten therapeutischen Nutzen besitzen nach heutigem Kenntnisstand die Cannabinoide Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Weniger gut untersucht sind Cannabichromen (CBC), Cannabinol (CBN), Cannabigerol (CBG), Cannabicyclol (CBL), Tetrahydrocannabivarin (THCV) und Tetrahydrocannabinolsäure (THCA).
Wirkweise
THC und CBD werden vorzugsweise aus den Blüten der weiblichen Hanfpflanze gewonnen. Dort liegen sie in Form ihrer organischen Säuren THCA und CBDA vor. Beide Cannabinoide gleichen sich in ihrer chemischen Struktur und binden an die klassischen Cannabinoid-Rezeptoren CB1 und CB2. Physiologisch werden beide Rezeptoren über körpereigene Endocannabinoide aktiviert, insbesondere durch 2-Arachidonylglycerol (2-AG) und Anandamid. Die Endocannabinoide bilden zusammen mit CB1 und CB2 das körpereigene Endocannabinoid-System (ECS). Dieses wird von THC und CBD moduliert.
CB1- und CB2-Rezeptoren
Die höchste Dichte an CB1-Rezeptoren befindet sich in neuronalen Schaltkreisen von Rückenmark und Gehirn. Dort vermitteln Cannabinoide (THC hat hierbei die höchste Bindungsaffinität) ihre analgetische Wirkung, indem die synaptische Schmerzweiterleitung unterbrochen und das Schmerzempfinden gedämpft wird. Muskelentspannende Effekte scheinen auf Interaktionen in Kleinhirn und Basalganglien zurückzugehen, Ausgeglichenheit und Wohlbefinden auf Cannabinoid-Bindungen im limbischen System und der Großhirnrinde. CB2-Rezeptoren finden sich bevorzugt in der Peripherie und auf Immunzellen, speziell B- und T-Lymphozyten, NK-Zellen, Monozyten und neutrophilen Granulozyten. So lässt sich der regulative Einfluss der Cannabinoide auf das Immunsystem erklären.
Ferner interagiert CBD mit weiteren Rezeptoren, etwa dem Peroxisom-Proliferator-aktivierten Rezeptor vom Subtyp gamma (PPARγ), dem G-Protein gekoppelten Rezeptor GPR55, dem Serotoninrezeptor 5-HT1A, dem nozizeptiven Vanilloid-Rezeptor 1 (TRPV1) sowie M- und Delta-Opioidrezeptoren. Der gesamte Wirkmechanismus und das genaue therapeutische Potenzial der Cannabinoide sind bis heute noch nicht vollständig entschlüsselt.
THC
Anhand von Fallbeispielen und Fallstudien gelten für THC folgende therapeutische Wirkungen als gesichert:
- Analgesie
- Linderung von Zytostatika-induzierter Übelkeit und Erbrechen
- Appetitanregung
- Muskelrelaxierung bei Spastiken
THC hat ausgeprägte psychotrope Eigenschaften und unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz.
CBD
CBD zeigt im Gegensatz zu THC keine bzw. nur minimale psychoaktive Effekte, vielmehr mildert es als negativer allosterischer Modulator die bewusstseinsverändernde Aktivität von THC. CBD umfasst ein weitaus größeres therapeutisches Spektrum als THC. In der Literatur sind vielfältige pharmakologische Eigenschaften beschrieben. Demnach wirkt CBD:
- antikonvulsiv
- spasmolytisch
- muskelrelaxierend
- analgetisch
- antiemetisch
- antiinflammatorisch
- antioxidativ
- antipsychotisch
- anxiolytisch
- neuroprotektiv
- appetitanregend
- blutzuckersenkend
- schlafanstoßend
- tumorwachstumshemmend
- knochenwachstumsfördernd
Diese und andere therapeutische Wirkungen sind derzeit Gegenstand unterschiedlicher Studien und Forschungsprojekte.
Das Problem der Evidenz
Trotz vielfacher Positiverfahrungen sind Medizinalhanf-Verordnungen für einige Praxen immer noch eine Herausforderung. Unsicherheiten im Umgang mit Cannabinoiden basieren vor allem auf mangelnder Erfahrung, aber auch auf der geringen bis mäßigen Evidenzlage. Ergebnisse umfangreicher randomisiert-kontrollierter Studien (RCT-Studien) sind dünn gesät. Auch im 2017 verabschiedeten Gesetz „Cannabis als Medizin“ sucht man vergebens konkrete Indikationen. Mit Ergebnissen der vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Begleiterhebung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist frühestens im Jahr 2022 zu rechnen. Als empirisch nachgewiesen gilt bislang nur die Wirksamkeit bei neuropathischen Schmerzen –Cannabinoide bergen jedoch ein weitaus größeres therapeutisches Potenzial. All dies erfordert ein beachtliches Maß an Recherche und Eigeninitiative, sowohl von Ärzten als auch Patienten. Unterstützung bietet dabei die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS). Mit einer Praxisleitlinie gibt sie Medizinern eine Hilfestellung für die Anwendung von Cannabinoiden in der konkreten Betreuung von schwerstkranken Patienten.
Praxisleitlinie „Cannabis in der Schmerztherapie“
Die Praxisleitlinie „Cannabis in der Schmerztherapie“ unterscheidet sich von den herkömmlichen evidenzbasierten Leitlinien, bei denen sich die Wirksamkeit einer Therapie anhand statistischer Mittelwerte und berechneter Signifikanz ableitet. Die DGS berücksichtigt neben der externen Evidenz aus Literaturrecherchen die interne Evidenz durch Erfahrungswerte von Therapeuten und Patienten. Eine fehlende, schwache oder mäßige Evidenz für eine medizinische Verwendung von Cannabinoiden bedeutet nicht, dass keine Wirkung existiert und somit keine Indikation besteht, so die Leitlinien-Experten. Dies konnte bisher lediglich nicht oder nicht eindeutig mittels RCT-Studien nachgewiesen werden.
Cannabis-Verordnungen vor allem bei Schmerzen
Seit der Legalisierung von Cannabis 2017 sind drei Jahre vergangen. Seitdem sind die Cannabis-Verordnungen zum Teil explosionsartig nach oben gegangen, weiß Dr. Norbert Schürmann, Facharzt für Anästhesie und Allgemeinmedizin, Leiter der Abteilung für Schmerz- und Palliativmedizin am St. Josef Krankenhaus in Moers und Vizepräsident der DGS. Am häufigsten verschrieben wird Cannabis bei neuropathischen und chronischen Schmerzen (ca. 72 Prozent), Spastik (ca. 11 Prozent), Anorexie/Wasting (ca. 7 Prozent), Übelkeit und Erbrechen (ca. 4 Prozent), Depressionen (ca. 3 Prozent) sowie Migräne (ca. 2 Prozent). Mit etwa 1 Prozent folgen ADHS, Appetitmangel/Inappetenz, entzündlich nichtinfektiöse Darmkrankheiten und Epilepsie. Die Indikationen Tic-Störungen (inklusive Tourette-Syndrom), Restless Legs Syndrom und Insomnie/Schlafstörungen machen unter 1 Prozent der Verordnungen aus. Bei rund 6 Prozent der Patienten wurde als Grunderkrankung Multiple Sklerose diagnostiziert, etwa 19 Prozent litten an einer Tumorerkrankung. Mehr als jeder Dritte (36 Prozent) beendete die Cannabis-Therapie vor Ablauf eines Jahres. (Stand März 2020).
Cannabis-Fertigarzneimittel empfohlen
Mit mehr als 50 Prozent der Verordnungen wurde am häufigsten die inhalative Form (also „Gras“) verschrieben. Von dieser Variante rät die DGS jedoch ab, deutlich besser geeignet wären orale Applikationsformen oder das Oromukosalspray Sativex mit einer Kombination aus THC und CBD (Nabiximols). Ein entscheidender Vorteil der Fertigarzneimittel ist deren längere Halbwertszeit bis zu zwölf Stunden und die damit verbundene kontinuierliche Wirkung – im Gegensatz zu abrupten Spitzenkonzentrationen bei der Inhalation, so Schürmann. Obendrein sind in der Apotheke individuell aufbereitete Cannabis-Präparate bis zu 3–4mal kostenintensiver als Fertigprodukte. Dies könne, laut Schürmann, bei vielen niedergelassenen Kollegen zu Regressen führen – auch noch zwei Jahre rückwirkend.
Kombination aus THC und CBD in der Analgesie überlegen
In der Schmerztherapie überzeugt vornehmlich die Kombination aus THC und CBD (zum Beispiel 5–10 mg THC plus 10–20 mg CBD). Real-World-Daten belegen speziell bei therapierefraktären chronischen Schmerzen eine bessere Wirksamkeit und Verträglichkeit als eine THC-Monotherapie. „Die beiden Substanzen weisen einen synergistischen Effekt in der analgetischen Wirkung auf, der durch die antikonvulsiven, neuroprotektiven und anxiolytischen Eigenschaften von CBD unterstützt wird“, erklärt Dr. Michael Überall, Präsident der Deutschen Schmerzliga, auf dem virtuellen Schmerz- und Palliativtag im Juli 2020. Zudem reduziert CBD die psychoaktivierende Wirkung von THC, was sich vor allem im klinischen Alltag bewährt.
Studien-Ergebnisse
Eine Überlegenheit der Kombination aus THC und CBD wird von einer retrospektiven Analyse auf Basis des deutschen PraxisRegisters Schmerz unterstützt, in der die Wirksamkeit von Nabiximols mit Dronabinol verglichen wurde. Im Nabiximols-Arm erreichten 64,4 Prozent der Patienten mit schwer behandelbaren neuropathischen Schmerzen eine Schmerzverringerung um ≥ 50 Prozent; unter der THC- Monotherapie mit Dronabinol lag der Anteil bei lediglich 22,8 Prozent (OR = 6,1, 95%-KI: 4,3–8,7; p < 0,001). „Vier von zehn Patienten der Nabiximols-Gruppe konnte jegliche weitere Basisschmerztherapie absetzen, verglichen mit einem von zehn unter Dronabinol“, berichtete Überall.
Ferner überzeugt die Kombination aus THC und CBD gegenüber der THC-Monotherapie hinsichtlich Stimmung und Affekt, insbesondere bei den häufigen Komorbiditäten von chronischen Schmerzen – nämlich Stress, Angst und Depressivität. Die geringe Therapieabbruchrate von 4 Prozent lässt zudem auf eine gute Verträglichkeit von Nabiximols schließen.