Arzneimittelreport: Medikationsplan für gebärfähige Frauen

Der Arzneimittelreport der Barmer-Krankenkasse zeigt, dass schwangeren Frauen zu oft Arzneimittel verordnet werden, die potenziell schädlich für das ungeborene Kind sind. Daher sei die Einführung des bundeseinheitlichen Medikationsplans für Frauen im gebärfähigen Alter bereits ab der ersten Langzeitmedikation sinnvoll.

Schwangere

Die Teratogenität von Arzneimitteln ist ein wichtiger Bestandteil des Zulassungsprozesses. Zurückzuführen ist dies bekanntlich auf den Contergan-Skandal im Jahr 1957. Das Antiemetikum und Sedativum Contergan mit dem Wirkstoff Talidomid wurde insbesondere von schwangeren Frauen eingenommen und führte bei mehr als 10.000 Kindern zu schweren Organmissbildungen. Seither sind tierexperimentelle Studien zur Teratogenität vor und eine Überwachung der Therapiesicherheit nach der Arzneimittelzulassung unabdingbar. Der Arzneimittelreport der Barmer-Krankenkasse 2021 beschäftigt sich mit dem Schwerpunktthema Arzneimitteltherapie in der Schwangerschaft und bei Frauen im gebärfähigen Alter.

Arzneimittelrisiken frühzeitig erkennen

Etwa 6 von 10 Frauen planen ihre Schwangerschaft im Voraus, damit werden annähernd 40% überraschend schwanger. Auch wird die Schwangerschaft häufig erst bemerkt, wenn ein Schaden durch ungeeignete Arzneimittel bereits eingetreten sein kann. Denn gerade in den ersten zwei bis acht Wochen, der sogenannten Embryonalphase, entwickeln sich die meisten Organe des Kindes, sodass hier das Risiko für eine Schädigung durch teratogene Arzneimittel besonders hoch ist. Eine frühzeitige Überprüfung der Medikation ist daher essenziell.

Daten für den Arzneimittelreport

Für den Arzneimittelreport wurden die Abrechnungsdatensätze der Barmer-Ersatzkrankenkasse aus dem Jahr 2018 ausgewertet sowie eine vertiefende Umfrage unter den Versicherten durchgeführt.

Im Jahr 2018 waren etwa 1.976.584 der bei der Barmer-Ersatzkrankenkasse versicherten Frauen im gebärfähigen Alter (13 bis 49 Jahre). Davon entbanden 67.920 Frauen ein Kind in einer Klinik. 

An der Umfrage nahmen knapp 1.300 versicherten Frauen teil, die im zweiten Halbjahr 2020 entbunden hatten. Die Auswertung der Daten ergab, dass eine im Vergleich zum Durchschnitt erhöhte Anzahl Frauen beteiligt waren, die ihre Schwangerschaft im Voraus planten.

Arzneimitteltherapie vor, während und nach der Schwangerschaft

Die Abrechnungsdaten zeigen, dass etwa 63% der Frauen vor der Schwangerschaft eine Arzneimittelverordnung ohne Vitamine, Mineralstoffe, Eisen, Jodid erhielten. Davon nahmen 21% bis zu drei, 5% sogar fünf und mehr Medikamente. Während der Schwangerschaft stieg die Behandlungsprävalenz. Neu verordnet wurden insbesondere Immunglobuline zur Prophylaxe einer Rhesusfaktorinkompatibilität, Eisen- und Magnesiumverbindungen. Die Verordnungszahlen von Muskelrelaxanzien, Tetrazyklinen sowie Schmerz- und Migränemitteln sanken hingegen. Nach der Geburt fiel die Anzahl der angewendeten Arzneimittel meist sogar unter das Niveau vor der Schwangerschaft.

Patientinnen mit Langzeitmedikation

Etwa jede sechste Frau erhielt eine Langzeittherapie vor der Schwangerschaft, am häufigsten wurden Schilddrüsentherapeutika verordnet. Es erhielten zudem fünf von 1.000 Frauen Wirkstoffe mit Einfluss auf das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS), vier von 1.000 Antiepileptika und drei von 1.000 systemische Glucocorticoide. Nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAID) wurden in 78% und ACE-Hemmer in 77% der Fälle abgesetzt. Auch bei der Behandlung mit Antidepressiva wurde die Behandlung bei 39% der Frauen in der Schwangerschaft beendet.

Verordnende Ärzte

Vor der Schwangerschaft wurden die Verordnungen am häufigsten von den Hausärzten erstellt. In der Schwangerschaft wurden die Gynäkologen deutlich stärker einbezogen. Eine Ausnahme bildeten hier Frauen mit einer Langzeitmedikation, die eher den Hausarzt und generell häufiger verschiedene Facharztgruppen aufsuchten. Nach der Entbindung und Stillzeit verordneten insgesamt wieder häufiger die Hausärzte die benötigte Medikation.

Anpassung der Medikation

Die häufigsten Veränderungen in der Medikation waren die Verordnung eines neuen Medikaments (41%), Dosierungsanpassungen (47%) sowie das Beenden (39%) oder die Umstellung (26%) einer bestehenden Therapie.

Geringer Einsatz von Medikationsplänen

Bei der Umfrage gaben 30% der Frauen an, mindestens ein Arzneimittel einzunehmen, 3% nahmen drei oder mehr Arzneimittel ein. Einen Medikationsplan hatten lediglich 14%, wobei es sich häufig nicht um den bundeseinheitlichen Medikationsplan handelte und nur in 19% der Fälle auch die Selbstmedikation aufgeführt wurde. Der Plan wurde häufig von Ärzten erstellt, nur 2% der Frauen erhielten ihn in der Apotheke.

Einschätzung von Arzneimittelrisiken

Es gaben 59% der befragten Frauen an mit dem behandelnden Arzt über die geplante Schwangerschaft gesprochen zu haben, bei 93% war dies der Gynäkologe. Dementsprechend fand bei 41% keine Rücksprache statt. Alle behandelnden Ärzte wurden über den Kinderwunsch nur von 6,4% der Frauen informiert. In der Frühschwangerschaft sprachen 82% der Frauen mit ihrem Arzt oder Apotheker über die bestehende Medikation, auch hier insbesondere mit dem jeweiligen Gynäkologen (88%).

Angst vor Risiken senkt Compliance

Über die Hälfte der Frauen (52%) hatte laut eigenen Angaben Angst vor einer Schädigung des ungeborenen Kindes durch Arzneimittel. Es informierten sich daher 75% der Befragten über ihre Medikation insbesondere beim Arzt, aber auch in der Apotheke oder dem Internet. Dennoch setzten 22% der befragten Frauen die in der Schwangerschaft verordnete Arzneimittel aus Angst vor Schädigung des Kindes ab.

Beratungsbedarf bei Selbstmedikation

Beim Thema Selbstmedikation ließen sich 78% der Frauen vorher sowohl in der Arztpraxis (91%) als auch, häufig zusätzlich, in der Apotheke (46%) beraten.

Teratogene Arzneimittel

Teratogene Arzneimittel lassen sich in drei Gruppen einteilen: unzweifelhaft starke, gesicherte und schwache Teratogene. Zu den unzweifelhaft starken Teratogenen zählen beispielsweise Retinoide, Thalidomid, Valproinsäure oder auch Fingolimod. Sie können das sogenannte Hintergrundrisiko für Fehlbildungen von 3% auf 30% erhöhen. Gesicherte Teratogene sind unter anderem Androgene, Cumarinderivate, Zytostatika und bestimmte Psychopharmaka (Phenytoin, Carbamazepin). Zu den schwachen Teratogenen zählen z.B. Glucocorticoide, Lithium und Cotrimoxazol.

Verordnung von Teratogenen auch in der Schwangerschaft

Insgesamt waren 153.653 der versicherten Frauen im gebärfähigen Alter von der Verordnung eines potenziell teratogenen Arzneimittels betroffen. Es erhielten 6,8% ein schwaches Teratogen, das eher kurzzeitig angewendet wurde. Bei 0,6% wurde hingegen ein unzweifelhaft starkes Teratogen meist über einen längeren Zeitraum angewendet. Häufig handelte es sich dabei um eine bestehende Medikation, die trotz Schwangerschaft weitergeführt wurde. Nur etwa ein Drittel der unzweifelhaft starken Teratogene wurde im 1. Trimenon abgesetzt.

Medikationsplan für Frauen im gebärfähigen Alter

Im Jahr 2018 bekamen von über 66.000 Barmer-Versicherten mit Entbindung 663 potenziell kindsschädigende Arzneimittel. Der Arzneimittelreport zeigt, dass auch im späten Verlauf der Schwangerschaft noch risikobehaftete Arzneimittel verordnet werden.

Der Barmer-Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Christoph Straub fordert daher einen Rechtsanspruch auf den bundeseinheitlichen Medikationsplan (BMP) für Frauen im gebärfähigen Alter mit Dauermedikation. Der BMP muss erst ab drei verordneten Medikamenten ausgestellt werden, so entstünden Informationslücken. Da es bis zum Eintreten einer Schwangerschaft in der Regel die Allgemeinmediziner seien, die Medikamente verordneten, könnten Gynäkologen daher teratogene Arzneimittel nicht rechtzeitig absetzen lassen.

„Zu einem späten Zeitpunkt der Schwangerschaft sind solche Arzneimittel im Einzelfall eventuell akzeptabel, weil die Gefahr für Missbildungen und Schädigungen des Kindes dann etwas geringer ist. Deren Verabreichung muss dann aber zwingend im Medikationsplan stehen“, erklärt der Autor des diesjährigen Arzneimittelreports und Chefarzt am Klinikum Saarbrücken, Prof. Dr. Daniel Grandt. Eine Absetzquote mit 31% bis 60% sei deutlich zu wenig.

Nutzen-Risiko-Verhältnis abwägen

Zu bedenken ist allerdings auch, dass nicht alle risikobehafteten Arzneimittel in der Schwangerschaft abgesetzt werden können. Dies liegt zum Teil an fehlenden Alternativen, aber ebenso daran, dass ein Absetzen der Therapie das Risiko für Mutter und Kind möglicherweise noch stärker erhöht, wie es beispielsweise bei Schilddrüsenunterfunktion oder Epilepsie der Fall ist. Das Weiterführen einer Behandlung mit potenziell teratogenen Arzneimitteln stellt nicht immer einen Behandlungsfehler dar, sondern kann im Einzelfall eine notwendige therapeutische Entscheidung sein. Daher sollte eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung und strenge Indikationsstellung dieser Arzneimittel durchgeführt werden. Zudem sollten die Frauen unbedingt darauf hingewiesen werden, dass das unabgestimmte Absetzen einer verordneten Arzneimitteltherapie aufgrund für Patienten nicht kalkulierbarer Risiken unterbleiben sollte.

Autor:
Stand:
16.08.2021
Quelle:
  1. Barmer: Arzneimittelreport 2021
  2. Barmer: Medikation und Schwangerschaft: Damit die aufregendste Zeit im Leben von Anfang an eine Zeit der Vorfreude ist (12.08.2021)
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