Spinale Muskelatrophie (SMA)

Die hereditären Formen der spinalen Muskelatrophien treten meist schon im Baby- und Kleinkindalter auf. Je nach Typ ist die Lebenserwartung in unterschiedlichem Maße reduziert. Neue Therapien verbessern den Verlauf dieser seltenen Erkrankungen.

Spinale Muskelatrophie (SMA)

Definition

Unter dem Begriff der spinalen Muskelatrophien (SMA) wird eine Gruppe von Erkrankungen zusammengefasst, welche alle durch eine nicht-entzündliche Degeneration des 2. Motoneurons gekennzeichnet sind, was sich klinisch als Muskelatrophie und Schwäche manifestiert. Man unterscheidet hereditäre Formen, die meist schon im Baby- und Kleinkindalter auftreten, und sporadische Formen. Die Einteilung der SMA ist noch nicht endgültig abgeschlossen, beispielsweise sind die sporadischen Formen aufgrund der neuropathologischen Befunde eigentlich der Gruppe der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) zuzuordnen.

Geordnet nach den Meilensteinen in der motorischen Entwicklung, die erreicht werden, wird die Einteilung der hereditären Formen nach folgendem, durch die International SMA Collaboration 1991 etablierte und erweiterte Schema, wie folgt vorgenommen:

  • Typ 0: neonatale Form
  • Typ I: infantile spinale Muskelatrophie, Werdnig-Hoffmann
  • Typ II: Intermediärtyp, Dubowitz-Syndrom
  • Typ III: proximale neurogene Amyotrophie, Kugelberg-Welander (SMA IIIa mit Erkrankung vor dem dritten Lebensjahr und SMA IIIb mit Erkrankung nach dem dritten Lebensjahr)
  • Typ IV: adulte Form

Zu den sporadischen Formen rechnet man:

  • progressive spinale Muskelatrophie, Typ Vulpian-Bernhard, „flail arm-Syndrom“
  • juvenile, distale spinale Muskelatrophie, Typ Hirayama
  • Peronealtyp mit Manifestation an Muskulatur der Unterschenkel, „flail leg-Syndrom“
  • progressive Bulbärparese

Die spinalen Muskelatrophien sind also eine klinisch und genetisch heterogene Gruppe von Erkrankungen. Die Schweregrade unterscheiden sich nicht nur zwischen den Gruppen, sondern auch innerhalb einer Gruppe. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Formen sind fließend und etwa 25% der Patienten können nicht klar einer Gruppe zugeordnet werden. Im Folgenden werden die hereditären Formen 0-IV behandelt. Abschließend wird kurz auf einige sporadische Formen Bezug genommen.

Epidemiologie

Aufgrund der verschiedenen Typen der SMA und der Heterogenität innerhalb dieser Gruppe von Erkrankungen, variieren die Angaben zur Inzidenz. In einer Arbeit von Sugarman und Kollegen aus dem Jahr 2012 wird anhand genetischer Analysen von über 70.000 Proben eine Inzidenz von 1:11.000 angegeben. Die hereditären Formen sind damit nach der Mukoviszidose eine der häufigsten autosomal-rezessiv vererbten Erkrankungen. Dennoch zählen SMA zu den seltenen Erkrankungen.

Durch den autosomal-rezessiven Vererbungsmodus kommen klinisch unauffällige Träger vor. Etwa eine von 45 Personen ist Überträger der Erkrankung.

Ursachen

Die proximalen Muskelatrophien im Kindesalter werden autosomal-rezessiv vererbt. Heterozygote Anlageträger sind dadurch nicht von Kontrollpersonen zu unterscheiden. Über 95% der Patienten mit autosomal-rezessiv vererbter SMA weisen eine homozygote Deletion im SMN1-Gen auf (survival motor neuron 1) auf Chromosom 5q auf (5q-assoziierte SMA). Auch Mutationen in dem Gen können auftreten. Dadurch kommt es zu einem Funktionsverlust des SMN1-Gens, dessen Ergebnis eine verminderte Expression des SMN-Proteins ist. Das SMN-Protein wird in allen Zellen exprimiert, wird aber besonders im Rückenmark zu Schutz der Motorneurone benötigt.

Das SMN1-Gen weist eine paraloge, nahezu identische Kopie, das SMN2-Gen, auf. Im Gegensatz zum SMN1-Gen produziert das SMN-2-Gen überwiegend ein verkürztes SMN-Protein. Im SMN2-Gen kann es bei SMA durch abnormales Splicing nach der Transkription der DNA zur Entstehung eines verkürzten und funktionslosen Proteins kommen. Der Schweregrad der SMA korreliert mit dem verbleibenden Anteil an funktionellem SMN-Protein, der über das SMN2-Gen gebildet wird. Kinder mit mehreren SMN2-Kopien weisen in der Regel mildere Verlaufsformen auf.

Man könnte die SMA demnach auch als SMN-Mangelkrankheit bezeichnen. Das SMN-Protein ist unter anderem für die transkriptionale Regulation und die Regeneration der Telomere zuständig. Durch den SMN-Mangel kommt es zu Splicing-Defekten, vor allem in den Motoneuronen.

Pathogenese

Durch die Deletion bzw. Mutation im SMN1-Gen kommt es zu einer verminderten Expression des SMN-Proteins und zur Degeneration motorischer Neurone im Rückenmark und Hirnstamm. Die Motoneurone, spezialisierte Neurone, die für die willkürlichen Bewegungen der Skelettmuskulatur verantwortlich sind, degenerieren. Es kommt zu einem symmetrischen Schwund der motorischen Kern- bzw. Vorderhornzellen mit reaktiven Gliawucherungen besonders im Bereich von Medulla oblongata sowie in der zervikalen und lumbalen Intumeszenz. Bereits makroskopisch fällt auf, dass die vorderen Wurzeln dünner als normal und grau entfärbt sind. Mikroskopisch lässt sich eine Degeneration von Markscheiden und Achsenzylinder feststellen.

In der betroffenen Muskulatur kommt es zu einer neurogenen Atrophie mit einer uniformen Atrophie der motorischen Einheiten und randständig vermehrten Muskelkernen. Auch einer Myopathie ähnelnde Muskelveränderungen können auftreten. Je nach Ausprägung können auch die Atemmuskulatur sowie die bulbäre Muskulatur betroffen sein, so dass lebenswichtige Funktionen wie Atmung und Schlucken beeinträchtigt sind. Dies bedingt den letalen Charakter von SMA.

Symptome

Klinische ist die Gruppe der SMA durch eine langsam fortschreitende, rein motorische, periphere Lähmung mit Muskelatrophien mit einer segmentalen Verteilung und faszikulären Zuckungen charakterisiert. Muskelschwäche und Muskelatrophie sind die Hauptcharakteristika. Die Muskelschwäche ist meist symmetrisch und die proximalen Muskeln (rumpfnahe Muskeln, z.B. Schulter-, Hüft- und Rückenmuskulatur), v.a. der Extremitäten, sind stärker betroffen. Ebenfalls betroffen sind die axiale, interkostale und bulbäre Muskulatur. Sensibilität, Trophik und Entleerung von Darm und Harnblase bleiben ungestört. Ebenso sind Sensorium und Kognition nicht beeinträchtigt. Es wird oft beobachtet, dass Patienten mit SMA geistig wach und kontaktfreudig sind.

Die einzelnen Unterformen zeigen klinisch einen sehr unterschiedlichen Verlauf und variieren auch bezüglich ihrer Prognose. Am raschesten schreiten die infantilen hereditären Formen fort. Diese haben auch die schlechteste Prognose.

SMA Typ 0

Hier tritt bereits bei Neonaten eine hochgradige Schwäche und Hypotonie auf. Häufig wurden bereits während der Schwangerschaft reduzierte Bewegungen des Fetus registriert. In solchen Fällen kann also von einem pränatalen Beginn der Erkrankung ausgegangen werden.

In der klinischen Untersuchung zeigen die Babys Areflexie, faziale Diplegie, Atrium-Septum-Defekte und Kontrakturen der Gelenke. Ein respiratorisches Versagen ist bereits früh ausgeprägt. Die Lebenserwartung ist deutlich reduziert, meist leben die betroffenen Babys nicht länger als ein halbes Jahr.

SMA Typ I

Patienten mit SMA Typ I, nach den Erstbeschreibenden auch als Werdnig-Hoffmann-Erkrankung bezeichnet, erkranken innerhalb des ersten Lebensjahres. Teilweise kann die Symptomatik auch schon bei der Geburt vorhanden sein. Die Erkrankung kann Ursache eines „Floppy-infant-Syndroms“ sein.

Patienten fallen innerhalb des ersten Lebensjahres durch Trinkschwäche und ein Sistieren der motorischen Entwicklung auf. Sie liegen auffällig ruhig, die Finger und Zehen werden nur in geringem Maße bewegt.

Meist manifestiert sich die Symptomatik zuerst im Bereich des Beckengürtels. Anschließend breiten sich die Lähmungen auf die gesamte Extremitäten- und Stammmuskulatur aus. Im späteren Verlauf sind auch Gesichts- und Schluckmuskulatur betroffen. Durch eine beidseitige Fazialis-Lähmung erscheint das Gesicht von Patienten mit infantiler SMA ausdruckslos, lediglich die Bewegung der Augen bleibt in vollem Umfang erhalten. Der Kopf kann nicht gehalten werden. Die Muskulatur der Extremitäten ist hypoton und die Eigenreflexe fehlen. Durch die Muskelatrophie kommt es zu Fehlstellungen der Gelenke mit sekundärer Kontraktur.

Die Atmung ist abdominal betont. Die Parese der Interkostalmuskulatur führt zu Atelektasen, welche das Auftreten von Pneumonien begünstigen. Über 60% der Kinder entwickeln innerhalb des ersten oder zweiten Lebensjahres eine Pneumonie. Sie überleben nur in Ausnahmefällen das sechste Lebensjahr.

SMA Typ II

Kinder mit SMA Typ II können während ihrer Entwicklung ohne Hilfe sitzen, allerdings sind sie nicht in der Lage ohne Hilfe zu gehen. Beim Intermediärtyp manifestiert sich die Krankheit in den ersten Lebensjahren, beginnend im Beckengürtel. Die Muskelschwäche ist in den Beinen stärker ausgeprägt als in den Armen. In der neurologischen Untersuchung zeigen die Patienten eine Hypotonie sowie eine Areflexie.

Viele Komorbiditäten in dieser Patientengruppe gehen auf orthopädische Komplikationen bei der Knochen- und Gelenkentwicklung zurück. Es kann zu einer progressiven Skoliose, Gelenkversteifungen und Ankylose der Mandibula kommen. Die Kombination aus Skoliose und Schwäche der interkostalen Muskulatur kann zu einer restriktiven Lungenerkrankung führen, resultierend aus der behinderten Entfaltung der Lunge. Die Kognition der Patienten ist nicht beeinträchtigt.

SMA Typ III

Bei der proximalen, neurogenen Amyotrophie, nach den Erstbeschreibenden auch als Kugelberg-Welander-Krankheit bezeichnet, streut das Erkrankungsalter zwischen zwei und 17 Jahren und beträgt im Mittel neun Jahre. Je nach Alter bei Manifestation der Erkrankung unterscheidet man zwei Formen:

  • SMA IIIa: Erkrankungsbeginn vor dem dritten Lebensjahr
  • SMA IIIb: Erkrankungsbeginn nach dem dritten Lebensjahr

Initial zeigen die Kinder eine normale motorische Entwicklung. Die Krankheit manifestiert sich zu Beginn mit einer proximalen Schwäche in den Beinen, das Treppensteigen bereitet Schwierigkeiten. Im weiteren Verlauf der Erkrankung stürzen die Kinder häufiger und das Aufstehen danach bereitet ihnen Mühe. Der Gang ist watschelnd und es tritt eine lumbale Hyperlordose auf. Mehrere Jahre nach Beginn der Erkrankung kommt es zu einer Schwäche in den Mm. deltoideus, sternocleidomastoideus und später auch an den Armen und Händen. Ein feines Zittern der ausgestreckten Finger kann vorkommen. Die Zunge und die Kaumuskulatur sind meistens nicht betroffen. Die Kognition ist unverändert.

Der Verlauf ist wechselnd. Zwischen Phasen der Krankheitsprogression gibt es stabile Phasen, in denen die Krankheit nicht weiter voranschreitet. Diese Phasen können mitunter Jahre dauern. Wird nicht interveniert, so ist die Lebensdauer in unterschiedlichem Ausmaß verkürzt. Da diese Form der SMA nur langsam progredient ist, ist die Lebenserwartung mit Therapie jedoch meist normal.

SMA Typ IV

Diese Form manifestiert sich erst im Erwachsenenalter. Die ersten Symptome treten üblicherweise nach dem 30. Lebensjahr auf. Eine Diagnose zwischen dem 18. und 30. Lebensjahr ist sehr selten. Die SMA Typ IV ist wesentlich seltener als die anderen Formen (< 5% aller SMA-Fälle).

Die Erkrankung beginnt schleichend und ist langsam progredient. Die bulbären Muskeln und die Atemmuskulatur sind nur selten betroffen.

Differentialdiagnosen zu SMA

Differentialdiagnosen bei den hereditären Formen der SMA sind unter anderem konnatale Myopathien, infantile Zerebralparese und Muskeldystrophien. Auch die juvenile primäre Lateralsklerose sowie das Jankovic-Rivera-Syndrom und die hereditäre spastische Paralyse kommen als Differentialdiagnosen in Betracht.

Bei den sporadischen Formen ist ALS eine mögliche Differentialdiagnose.

Diagnostik

Bislang gibt es keine deutsche Leitlinie zu Diagnostik und Therapie von SMA, geplant ist eine solche für 2021. International bieten ein Consensus Statement von Wang und Kollegen aus dem Jahr 2007 sowie dessen zweiteiliges Update aus 2018 (Mercuri et al. und Finkel et al.) Orientierung.

Anamnese und klinische Untersuchung führen zum Verdacht auf eine SMA. In diesem Fall sollte ein Gentest durchgeführt werden.

Gentest

Bei den hereditären Formen wird die Diagnose durch die molekulargenetische Analyse der SMN1-Gene gestellt. Ein Gentest ist zur Diagnose sehr verlässlich und bei typischer klinischer Symptomatik und positivem Gentest ist keine Muskelbiopsie notwendig. Als Gold Standard ist eine quantitative Analyse von SMN1 und SMN2 definiert, die mittels MLPA-Technik (Multiplex Ligation-Dependent Probe Amplification), quantitativer PCR (qPCR) oder Next Generation Sequencing (NGS) durchgeführt werden sollte.

Zeigt der Test, dass beide Kopien des SMN1-Gens eine Deletion oder Mutation aufweisen, so ist die Diagnose 5q-assoziierte SMA gestellt. Weiterhin sollte auch die Zahl der SMN2-Kopien bestimmt werden, da dies ein prognostischer Faktor ist. Ist nur eines der SMN1-Gene fehlerhaft, aber die Symptome weiterhin verdächtig für eine SMA, so sollte eine SMN1-Gensequenzierung erfolgen, um nach subtilen Mutationen in dem Gen zu suchen. Ist dieser Test positiv, so bestätigt sich die Verdachtsdiagnose SMA 5q. Sind beide Kopien von SMN1 vorhanden und nicht fehlerhaft, ist eine hereditäre SMA sehr unwahrscheinlich.

Eine genetische Beratung sowie psychologische Unterstützung sollten bei einem positiven Testergebnis angeboten werden.

Weiterführende Untersuchungen

Zu den möglicherweise nötigen weiterführenden Untersuchungen zählen Muskelbiopsien, Elektromyographie (EMG) und die Bestimmung der Kreatinkinase (CK) im Serum.

In der Elektromyographie (EMG) können pathologische Spontanaktivität, Riesenpotentiale und eine verminderte Anzahl von Neuronen festgestellt werden.

Therapie

Da die SMA verschiedene Organsysteme betreffen, ist ein multidisziplinärer Ansatz ratsam. Mercuri und Kollegen (2018) empfehlen die Koordination des multidisziplinären Teams durch einen der Ärzte des Teams, am besten durch einen Neurologen oder Neuropädiater. In der Therapie spielen sowohl supportive Maßnahmen als auch die medikamentöse Therapie eine Rolle.

Medikamentöse Therapie

Nusinersen

Seit 2017 ist das Antisense-Oligonukleotid Nusinersen (Spinraza®) auf dem europäischen Markt erhältlich. Nusinersen kann das SMN2-Gen produzieren, wodurch ausreichende Mengen an Volllängen-SMN-Protein entstehen. Das neuronale Überleben wird dadurch verbessert. Unter Nusinersen kommt es zu einer Verbesserung der Muskelfunktion, die im natürlichen Verlauf der Erkrankung nicht beobachtet wird.

Nusinersen wird intrathekal mittels Lumbalpunktion direkt in den Liquorraum des Wirbelkanals appliziert. Pro Anwendung wird eine Dosis von 12 mg (5 ml) empfohlen. Die Therapie sollte so früh wie möglich begonnen werden. Es wird mit einer Aufsättigungsphase von vier Dosen an Tag 0, 14, 28 und 63 begonnen. Die Erhaltungsdosen werden im Abstand von vier Monaten verabreicht. Sehr häufige Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen und Rückenschmerzen, häufig kommt es zu Erbrechen.

Erste Langzeitdaten sind ebenfalls vielversprechend. Daten der NUTURE-Studie zeigen, dass alle Kinder, die im präklinischen Stadium eine Therapie mit Spinraza erhielten, nach 4,8 Jahren noch lebten. Die Patienten konnten den Status ihrer motorischen Fähigkeiten halten oder sogar verbessern. So können 92% der Patienten mit Unterstützung laufen.

Risdiplam

Seit 2020 ist in den USA Risdiplam zugelassen. Das Medikament wirkt ähnlich wie Nusinersen, hat aber den Vorteil, dass es oral verabreicht werden kann. Eine Liquorpunktion, ggf. verbunden mit einer Sedation und mit einem erhöhten Infektionsrisiko, bleibt den Patienten damit erspart.

Zolgensma

Zolgensma ist seit 2020 in Europa verfügbar. Es enthält den Wirkstoff Onasemnogen-Abeparvovec und ist eine Gentherapie zur Behandlung von Patienten mit 5q-assoziierter SMA mit einer biallelischen Mutation im SMN1-Gen und einer klinisch diagnostizierten SMA Typ I. Weiterhin ist das Medikament indiziert bei Patienten mit 5q-assoziierter SMA mit einer biallelischen Mutation im SMN1-Gen und bis zu drei Kopien des SMN2-Gens.

Es handelt sich um eine Vektorgenom-Infusionslösung, welche durch die DNS-Rekombinationstechnologie in menschlichen embryonalen Nierenzellen gebildet wird und das humane SMN-Protein exprimiert. Zolgensma baut eine neue Kopie des SMN-Gens in die Motoneurone ein, so dass eine einmalige Gabe ausreicht.

Weitere medikamentöse Therapie

Einige Studien zeigen positive Effekte auf die Muskelkraft beim Einsatz von Salbutamol, welches eigentlich aus der Therapie von Asthma bekannt ist. Ein endgültiger Nachweis steht noch aus. Dennoch wird das Medikament gelegentlich bei sitzfähigen und gehfähigen Patienten verschrieben.

Weiterhin können verschiedene Medikamente zur Symptomlinderung eingesetzt werden, etwa Vitamin D, Kalzium, Bisphosphonate, Anti-Reflux-Medikamente und Antibiotika.

Klinisches Management

Mit Nusinersen und Zolgensma scheint eine kausale Therapie der 5q-assoziierten SMA möglich zu werden. Aus Zeiten, in denen eine Gentherapie noch nicht möglich gewesen war, gibt es zahlreiche Ansätze zum klinischen Management von Patienten mit SMA. Maßgeblich hat hier auch die Veröffentlichung eines Dokumentes zu Therapiestandards von Wang und Kollegen aus dem Jahr 2007 beigetragen, welches 2018 von der SMA Study Group in zwei Veröffentlichungen erweitert wurde. In den letzten Jahren ist es zu einer deutlichen Verbesserung des klinischen Managements von respiratorischen, die Ernährung betreffenden, orthopädischen, emotionalen und sozialen Problemen bei Patienten mit SMA gekommen.

Respiratorische Problematik

Atemprobleme treten sowohl bei sitzfähigen als auch bei nicht sitzfähigen Patienten auf. Bei gehfähigen Patienten tritt eine respiratorische Symptomatik seltener auf.

Die häufigste Todesursache bei SMA Typ I und II ist Atemversagen. Es ist wichtig, dass ab dem Zeitpunkt der Diagnose ein Pneumologe hinzugezogen wird, der auch Erfahrung im Management von pädiatrischen neuromuskulären Patienten besitzt, denn die Atemmuskulatur, mit Ausnahme des Zwerchfells, ist schon recht früh im Verlauf der Erkrankung betroffen.

Bei Patienten mit SMA Typ I sollte schon früh eine nicht invasive Unterstützung der Atmung angeboten werden. Die Patienten haben häufig auch einen nur schwach ausgeprägten Husten, so dass die Ansammlung von Schleim und das Auftreten von Infektionen begünstigt werden. Wegen dem Risiko einer Pneumonie und assoziierten Komplikationen sollte bei Patienten während akuter Symptome eine Antibiose angewendet werden. Das Ziel bei diesen Patienten ist eine Verbesserung der Lebensqualität und nicht notwendigerweise eine Lebensverlängerung.

Zum Schutz aller Patienten mit SMA werden jährlich die Grippeimpfung sowie die Impfung gegen Pneumokokken empfohlen.

Gastrointestinaltrakt und Ernährung

Gastrointestinale Komplikationen sind bei SMA-Patienten häufig. Bislang ist nicht klar, ob dies durch die Immobilität und Mangelerscheinungen bedingt ist oder ob die gastrointestinale Motilität primär gestört ist.

Um Aspirationen beim Vorliegen einer Dysphagie zu vermeiden, wird eine Änderung der Konsistenz der Nahrung angeraten. Eingedickte flüssige Nahrung sollte gegeben werden. Bei Kindern mit SMA Typ I wird eine frühe Gastrotomie zum Anlegen eines PEG-Tube und bei gastrointestinalem Reflux auch eine laparoskopische Fundoplikatio nach Nissen empfohlen, um eine adäquate Ernährung zu gewährleisten und eine Aspirationspneumonie zu verhindern.

Bei Patienten mit SMA Typ II und erwachsenen Patienten sollte auf eine adäquate Ernährung geachtet werden, um eine Unterernährung zu vermeiden. Dies würde die ohnehin vorhandene Muskelatrophie verstärken. Bei Kindern sollten Wachstum und Gewichtsentwicklung überwacht werden. Bei nicht-gehfähigen Patienten sollte aber auch darauf geachtet werden, dass keine zu hohe Energiezufuhr erfolgt, da die Gefahr einer Adipositas besteht.

Mit zunehmendem Alter besteht die Gefahr einer reduzierten Mineralisation der Knochen, so dass auf eine adäquate Vitamin D- und Kalzium-Versorgung zu achten ist. Eine jährliche Kontrolle der Knochendichte wird empfohlen.

Orthopädische und muskuloskelettale Komplikationen

Muskelschwäche und eine eingeschränkte Mobilität prädisponieren SMA-Patienten für zahlreiche muskuloskelettale Probleme. Physiotherapie sollte zum Erhalt der Flexibilität und zur Vermeidung von Gelenkversteifungen eingesetzt werden.

An der Wirbelsäule kann es zu einer Skoliose kommen. Diese tritt bei nahezu allen nicht gehfähigen Patienten auf. Anhand von Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule sollte der Cobb-Winkel bestimmt werden. Liegt dieser unter 15-20°, so ist eine weitere Beobachtung indiziert. Bei einem Cobb-Winkel größer als 15-20° sollten ein Korsett genutzt und die Patienten weiter beobachtet werden. Bei einem Cobb-Winkel über 50° sollte eine Wirbelsäulenoperation in einem multidisziplinären Team erörtert werden. Bei Kindern mit nicht abgeschlossenem Wachstum sollte dabei eine wachstumsfreundliche Operation erwogen werden, während bei ausgewachsenen Patienten eine Fusion der Wirbelsäule angedacht werden sollte.

Weitere Informationen zur Therapie sind dem Leitfaden zu den Internationalen Therapiestandards für Spinale Muskelatrophie der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM) sowie den Publikationen von Wang et al. (2007), Mercuri et al. (2018) und Finkel et al. (2018) zu entnehmen.

Prognose

SMA Typ 0

Meist leben die betroffenen Babys nicht länger als sechs Monate.

SMA Typ I

Die Kinder entwickeln meist innerhalb des ersten oder zweiten Lebensjahres eine Pneumonie. Auch Atemversagen kann auftreten. Die Mehrzahl der Patienten stirbt noch vor Vollendung des zweiten Lebensjahres.

SMA Typ II

Die Lebenserwartung der Patienten liegt über dem zweiten Lebensjahr.

SMA Typ III

Wird nicht interveniert, so ist die Lebensdauer in unterschiedlichem Ausmaß verkürzt. Da diese Form der SMA nur langsam progredient ist, ist die Lebenserwartung unter Therapie meist normal.

SMA Typ IV

Die Lebenserwartung der Patienten ist aufgrund der späten Manifestation und der langsamen Progredienz nicht beeinträchtigt.

Hinweise

Ethische Aspekte

Das medizinische Team sollte vom Zeitpunkt der Diagnose an alle Möglichkeiten zur Versorgung und Therapie mit den entsprechen Vor- und Nachteilen besprechen. Bei Kindern sollten die Gespräche entsprechend mit den Eltern oder Betreuern geführt werden und Kinder sollten entsprechend ihres Alters in die Gespräche mit einbezogen werden. Den Patienten bzw. deren Angehörigen sollte zu jeder Zeit klar sein, dass sie von einer einmal getroffenen Entscheidung jederzeit zurück treten können.

Besonders Fragen, welche Maßnahmen in einem lebensbedrohlichen Notfall erörtern, sind ein äußerst sensibles Thema und nicht einfach zu beantworten. Der Erhalt einer guten Lebensqualität hat oberste Priorität für SMA-Patienten. Neuromuskuläre Zentren mit spezialisierten Teams, Patientenorganisationen und verschiedene Initiativen, etwa die Initiative SMA der DGM unterstützen die Patienten und ihre Familien.

Weitere spinale Muskelatrophien

Vulpian-Bernhard-Krankheit

Die Vulpian-Bernhard-Krankheit, auch als skapulo-humeraler Typ bezeichnet, wird als häufig benignere Form der ALS angesehen. Im Englischen wird auch der Begriff „flail arm syndrom“ verwendet. Von der Symptomatik her ist das Syndrom sehr charakteristisch. Der Beginn ist asymmetrisch an den proximalen oberen Extremitäten und breitet sich im Verlauf auf beide oberen Extremitäten aus. Schließlich kommt es zu einer kompletten reflexlosen peripheren Paraparese der Arme. Später sind auch die Muskulatur der Beine sowie die bulbäre Muskulatur betroffen.

Im Durchschnitt liegt die Lebenserwartung bei zehn Jahren, es werden aber auch deutlich schnellere Verläufe beobachtet. Männer sind deutlich häufiger als Frauen betroffen.

Juvenile distale spinale Muskelatrophie (Typ Hirayama)

Diese Erkrankung beginnt meist im zweiten Lebensjahrzehnt. Häufig ist die juvenile distale spinale Muskelatrophie in Japan und Sri Lanka beschrieben worden. Als Symptom kommt eine sich langsam entwickelnde asymmetrische Muskelatrophie der distalen oberen Extremitäten vor. Nach einem Fortschreiten über den Zeitraum von zwei bis vier Jahren ist die Krankheit selbstlimitierend, es kann sogar eine Besserung auftreten. Die Ursache für die Erkrankung ist bisher ungeklärt.

Peronealtyp der Motoneuronenkrankheit

Im Englischen wird der Peronealtyp der Motoneuronenkrankheit auch als „flail leg syndrom“ bezeichnet. Die Erkrankung ist seltener als die Vulpian-Bernhard-Krankheit. Die Krankheit kann sich in jedem Lebensalter manifestieren und ist zunächst asymmetrisch und überwiegend die Unterschenkelmuskulatur betreffend. Später sind auch Hände, Unterarme, Oberschenkel- und Stammmuskeln und zuletzt die bulbäre Muskulatur betroffen. Auch bei dieser Erkrankung handelt es sich um eine Variante der ALS.

Quelle:
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  5. Finkel et al. (2018): Nusinersen bei infantiler spinaler Muskelatrophie: wirksam, aber nicht heilend. Fortschr Neurol Psychiatr 2018; 86(03): 143
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