
Bereits Ende März 2020 hatte das MHI in Kanada die Testung des Alkaloids bei COVID-19-Patienten im Rahmen der COLCORONA-Studie angekündigt. Sie wurde in Kanada, den USA, Europa, Südamerika und Südafrika durchgeführt. Der Grund warum Colchicin ausgerechnet von einem Kardiologie-Institut untersucht wurde, liegt daran, dass sich Colchicin in der Behandlung der Perikarditis und des Postkardiotomie-Syndroms in den letzten Jahren bewährt hatte. Ende 2019 wurde zudem eine Studie veröffentlicht, die zeigen konnte, dass das Alkaloid in niedriger Dosierung nach einem Herzinfarkt weitere kardiovaskuläre Ereignisse verhindern konnte [1].
Über die Studie
COLCORONA (NCT04322682) ist eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte multizentrische Phase-III-Studie zur Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit von Colchicin bei erwachsenen Patienten, bei denen eine COVID-19-Infektion diagnostiziert wurde und die mindestens ein Hochrisikokriterium aufwiesen. Eingeschlossen wurden Patienten, die nicht hospitalisiert und bei denen seit der Diagnose der Erkrankung maximal 24 Stunden vergangen waren. Nach Randomisierung der 4.506 COVID-19-Probanden, erhielten diese zuhause entweder 30 Tage lang Colchicin- oder Placebo-Tabletten.
Dosierung
Die ersten drei Tage bekamen die Probanden im Colchicin-Arm 0,5 mg des Alkaloids zweimal täglich und in den letzten 27 Tagen einmal täglich 0,5 mg Colchicin.
Ergebnisse
Nach Angaben des MHI haben die Studienergebnisse gezeigt, dass Colchicin das Risiko an COVID-19 zu versterben oder ins Krankenhaus eingewiesen zu werden gegenüber Placebo um 21% verringerte. Dieses Ergebnis erreichte für die globale Studienpopulation von 4488 Patienten eine statistische Signifikanz.
Bei den 4159 Patienten mit nachgewiesener Diagnose von COVID-19 reduzierte Colchicin die Krankenhauseinweisungen um 25%, den Bedarf an mechanischer Beatmung um 50% und die Todesfälle um 44%.
Dr. Jean-Claude Tardif, Direktor des MHI-Forschungszentrums, Professor für Medizin an der Université de Montréal und Principal Investigator der COLCORONA-Studie sagte: „Unsere Forschung zeigt die Wirksamkeit der Colchicin-Behandlung bei der Verhinderung des Phänomens "Zytokinsturm" und der Verringerung der mit COVID-19 verbundenen Komplikationen. Wir freuen uns, das weltweit erste orale Medikament anbieten zu können, dessen Verwendung erhebliche Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben und möglicherweise COVID-19-Komplikationen bei Millionen von Patienten verhindern kann.“
Primärer Endpunkt wurde nicht erreicht
Schaut man sich die Daten allerdings genauer an, so ergibt sich ein relativierenderes Bild: Der primäre Endpunkt der Studie fiel negativ aus, denn dieser trat lediglich bei 4,7% der Patienten in der Colchicin-Gruppe und bei 5,8% der Patienten in der Placebo-Gruppe auf (Odds Ratio 0,79; 95,1% Konfidenzintervall (CI) 0,61 bis 1,03; P = 0,08). In der Pressemitteilung wurde also der Ausdruck „näherte sich statistischer Signifikanz“ als schlechter Euphemismus für „der primäre Endpunkt war statistisch nicht signifikant“ verwendet.
Studienlage
Neben COLCORONA haben weitere klinische Studien den Nutzen von Colchicin bei COVID-19-Patienten untersucht [2]:
- Die GRECO-19 war die erste prospektive offene randomisierte Studie, in der Colchicin im Vergleich zur üblichen Behandlung bei frühen Krankenhauspatienten bewertet wurde. Diese Studie an 105 Patienten ergab eine signifikante Verringerung des primären klinischen Ergebnisses einer Zwei-Punkte-Verschlechterung auf der Schweregradskala der WHO. Die Autoren stellten zusätzlich eine Unterdrückung der D-Dimer-Spiegel in der Colchicin-Kontrollgruppe fest [3].
- In einer italienischen Studie wurden 122 Krankenhauspatienten, die Colchicin plus Standardbehandlung (Lopinavir / Ritonavir, Dexamethason oder Hydroxychloroquin) erhielten, mit 140 Krankenhauspatienten verglichen, die nur die Standardbehandlung erhielten. Colchicin hatte einen signifikanten Mortalitätsvorteil (84% gegenüber 64% Überleben) gegenüber der Kontrolle [4].
- In einer weiteren prospektiven Studie wurden 38 hospitalisierte COVID-19-Patienten doppelblind zu Colchicin oder Placebo randomisiert. Patienten, die Colchicin erhielten, benötigten am Tag 7 weniger zusätzlichen Sauerstoff (6% gegenüber 39%) und wurden am Tag 10 eher entlassen (94% gegenüber 83%). Colchicin-Probanden wiesen außerdem eine stärkere Reduktion des CRP-Werts auf und es kam zu keiner Zunahme schwerwiegender unerwünschter Ereignisse [5].
Über Colchicin
Colchicin ist ein toxisches Alkaloid der Herbstzeitlosen (Colchicum autumnale) und ein sog. Spindelgift sowie ein Metaphaseninhibitor. Durch Hemmung der Tubulinkettenbildung blockiert Colchicin die Ausbildung und den Umbau des Zytoskeletts und hemmt so die Zellteilung, aber auch die Migration von nicht ortsständigen Zellen, wie z.B. der Leukozyten.
Als Medikament ist Colchicin zugelassen zur Behandlung der akuten Gicht oder zur Prävention eines Gichtanfalls, wenn nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) kontraindiziert sind oder vom Patienten nicht vertragen werden. Weiterhin findet das Arzneimittel Anwendung bei familiärem Mittelmeerfieber (FMF) zur Prävention von Fieberschüben und zur Prävention einer Amyloidose. Bei den in Deutschland zugelassenen Präparaten mit Pflanzenextrakten werden Dosierungen von maximal 8 mg in 24 Stunden und 12 mg pro gesamtem Gichtanfall empfohlen.
Wirkmechanismen
- Colchicin interkaliert irreversibel in freie α / β-Dimere, die in die Mikrotubuli-Verlängerung eingebaut sind und diese blockieren. Mikrotubuli sind dynamische Proteine, die sich durch Polymerisation von α- / β-Tubulindimeren bilden. Während einer Entzündung erleichtern Mikrotubuli die Bewegung von Adhäsionsmolekülen auf Zelloberflächen.
- Die Colchicin-Konzentrationen sind in Neutrophilen aufgrund der verminderten Aktivität der P-Glykoprotein-Membran-Efflux-Pumpe, die als energieabhängiger Colchicin-Efflux-Transporter dient, viel höher als in anderen Leukozyten. Daher scheinen Neutrophile empfindlicher als andere Zellen gegenüber niedrigeren Serumkonzentrationen von Colchicin zu sein.
- Cronstein et al. zeigten, dass Colchicin eine quantitative Abnahme der Leukozyten (L)-selectin-Expression bewirkt und die qualitative Expression von Endothel (E)-selectin, zwei Proteinen, die an der Adhäsion von Neutrophilen am Endothel beteiligt sind, verringert. Das Aufbrechen von Mikrotubuli hemmt auch die rheologische Kapazität von Neutrophilen und hemmt deren Transmigration aus Blutgefäßen.
- Andere Studien zeigen, dass Colchicin die intrazelluläre Neutrophilensignalisierung und die lysosomale Enzymfreisetzung während der Phagozytose direkt hemmt. Die Colchicin-vermittelte Hemmung der Freisetzung von Chemoattraktoren wie z. B. Leukotrien B4 unterdrückt die Adhäsion von Neutrophilen an entzündetes Endothel.
- Colchicin hemmt außerdem den Calciumeinstrom, der die intrazellulären zyklischen Adenosinmonophosphat (cAMP)-Spiegel erhöht und die Neutrophilenreaktionen dämpft.
Wirkmechanismus bei COVID-19
Welche Wirkung bei der Anwendung bei COVID-19 zugrunde liegt ist noch nicht vollständig geklärt. Jüngste Forschungsergebnisse konnten zeigen, dass Colchicin die Zytokinproduktion durch Hemmung der Aktivierung des NLRP3-Inflammasoms verringert. Die Unterbrechung der Inflammasom-Aktivierung durch Colchicin verringert die IL-1β-Produktion, was wiederum die Induktion von IL-6 und TNF sowie die Rekrutierung zusätzlicher Neutrophilen und Makrophagen verhindert.
Während die Wirkung einer spezifischen Anti-IL-6-Hemmung für die COVID-19-Behandlung etwas umstritten ist, kann die Fähigkeit von Colchicin, mehrere Zytokine gleichzeitig zu beeinflussen, Vorteile bieten.
Einige Medikamente, die bei der Behandlung von COVID-19 untersucht werden, haben die gleichen Targets wie Colchicin. Das Alkaloid unterscheidet sich von diesen Mitteln jedoch dadurch, dass es pleiotrope Wirkungen aufweist. Im Gegensatz zu den Biologika, die inmitten eines Zytokinsturms angewendet werden, ist Colchicin nicht immunsuppressiv, erhöht bekanntermaßen nicht das Infektionsrisiko und ist kostengünstig [2].
Achtung: Geringe therapeutische Breite
Colchicin besitzt eine geringe therapeutische Breite, weshalb bei der Anwendung extreme Vorsicht geboten ist. Vor allem der Umstand, dass eine Abgrenzung zwischen nicht toxischen und toxischen bzw. letalen Dosen nur sehr schwer möglich ist, macht die Dosisfindung schwierig. Denn die Toxizität des Alkaloids wird durch Faktoren wie Vorerkrankungen, Körpergewicht und Arzneimittel-Interaktionen bestimmt. In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Berichten von Intoxikationen. Die niedrigsten bisher beschriebenen letalen Dosen lagen zwischen 7 und 26 mg oral.
Großes Interaktionspotenzial
Da Colchicin ein Substrat von CYP3A4 und dem P-Glykoprotein (P-gp) ist, darf das Medikament nicht eingenommen werden bei gleichzeitiger Anwendung von P-Glycoprotein-Inhibitoren oder starken CYP3A4-Hemmern.
Nebenwirkungen
Die Nebenwirkungen unter Colchicin betreffen vor allem Gewebe mit hoher Proliferationsrate wie den Magen-Darm-Trakt und das Knochenmark. So kommt es unter der Anwendung häufig zu:
- Übelkeit, Benommenheit
- Durchfällen, Übelkeit, Erbrechen
- Bauchschmerzen, Bauchkrämpfe
- Myoneuropathien
- Muskelschwäche mit morphologischen Veränderungen
CAVE: Beim Auftreten von Durchfall und Erbrechen ist das Arzneimittel sofort abzusetzen, da dies erste Anzeichen einer Intoxikation sein können. Weiterhin kann Colchicin schwere Blutbildveränderungen hervorrufen (Agranulozytose, aplastische Anämie, Thrombozytopenie). Die Änderungen der Blutwerte können langsam oder sehr plötzlich auftreten. Aplastische Anämie z.B. hat eine hohe Mortalitätsrate. Daher sind regelmäßige Blutuntersuchungen notwendig. Beim Auftreten von Hautveränderungen, wie Petechien, sollte sofort ein Bluttest erfolgen.
Aussicht
Wissenschaftler warten jetzt auf die vollständigen Ergebnisse der COLCORONA-Studie. Nach Angaben des MHI wurde das Manuskript bereits bei einer großen wissenschaftlichen Zeitschrift eingereicht. Da die Studie allerdings nicht den primären Endpunkt erreichte, ist die Wahrscheinlichkeit recht gering, dass sich selbst nach Begutachtung der Studie ein positiveres Bild abzeichnet.