Die akute lymphatische Leukämie ist durch Proliferation und Akkumulation von Blasten in Knochenmark und Blut charakterisiert. Die leukämischen Blasten verdrängen das normale blutbildende Knochenmark und es kommt zu Zytopenien aller drei Zellreihen.
Die ALL ist durch Proliferation und Akkumulation maligne entarteter, unreifer lymphatischer Zellen der Hämatopoese, so genannter Blasten, in Knochenmark und Blut charakterisiert. Die leukämischen Blasten verdrängen das normale blutbildende Knochenmark und es kommt zu Zytopenien aller drei Zellreihen (Anämie, Thrombozytopenie, Granulozytopenie). Auch alle anderen lymphatischen (z. B. Lymphknoten, Milz) und nicht lymphatischen Organe (z. B. Leber, ZNS, Hoden, Haut, Knochen etc.) können befallen sein und durch die Ansammlung der Blasten geschädigt werden.
Die Subtypen der ALL unterscheiden Fachleute unter anderem anhand der Art der betroffenen Lymphozyten in Leukämien vom B-Zell-Typ oder T-Zell-Typ. Weitere Unterscheidungen werden aufgrund der genauen Veränderungen der Erbsubstanz getroffem. Bei einem Teil der Patienten findet man bspw. ein Philadelphia-Chromosom.
Epidemiologie
Die Gesamtinzidenz der ALL liegt bei 1,1/100.000 im Jahr. Der absolute Häufigkeitsgipfel liegt im Kindesalter unter 5 Jahren (5,3/100.000). Die ALL ist die häufigste maligne Erkrankung des Kindesalters und macht ca. 30% der kindlichen Krebserkrankungen aus. Danach fällt die Inzidenz kontinuierlich ab. Bei über 50-jährigen Personen steigt sie erneut langsam an und erreicht einen zweiten Häufigkeitsgipfel im Alter über 80 Jahren (2,3/100.000). Man findet eine leichte Prädominanz beim männlichen Geschlecht (1,4:1,0).
Ursachen
Die pathogenetischen Ursachen der ALL bleiben in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle unbekannt. Grundsätzlich könnten bestimmte endogene und exogene Faktoren mit einem erhöhten Risiko für die Entstehung einer ALL in Zusammenhang stehen. Dazu gehören kongenitale Defekte von DNA-Reparaturmechanismen, Trisomie 21, aber auch Chromosomenschäden durch radioaktive Strahlung, Exposition gegenüber myelotoxischen Chemikalien, Chemotherapeutika, sowie Strahlentherapie.
Pathogenese
Durch eine genetische Veränderung in einer lymphatischen Zelle kann es zu einer bösartigen Veränderung dieser Zelle kommen. Diese Zelle und ihre Nachkommen teilen und vermehren sich unkontrolliert. Die vielen mutierten Leukämiezellen sammeln sich in den Organen (vor allem in den lymphatischen Organen) und verdrängen die Zellen der normalen Hämatopoese im Knochenmark. Dies führt zu den unten beschriebenen Symptomen.
Die genetischen Veränderungen treten in den meisten Fällen nach der Geburt auf und sind daher nicht vererbt oder vererbbar.
Symptome
Das klinische Bild der ALL ergibt sich zum einen aus Symptomen, die auf die zunehmende Insuffizienz der normalen Hämatopoese und zum anderen auf die Infiltration von Organen zurückzuführen sind.
Symptome der hämatologischen Insuffizienz: Anämie: blasse Haut und Schleimhäute, Tachykardie, Dyspnoe, Schwindel, Leistungsminderung; Granulozytopenie bei Hypo- oder Hyperleukozytose oder normal hohen Gesamtleukozytenzahlen im Blutbild: Fieber, Infektneigung
Bei Diagnosestellung Infektionen oder Blutungen (33% der Patienten)
Lymphknotenvergrößerung (60%)
Splenomegalie (60%)
Mediastinaltumor (14% der Fälle von ALL insgesamt, 60% der Patienten mit T-ALL)
Initialer ZNS-Befall (7%) Es können Symptome wie Kopfschmerzen, Erbrechen, Lethargie, Nackensteifigkeit über Nervenausfälle (insbesondere Hirnnerven) bis hin zu Querschnittsymptomen bei Befall des Rückenmarks auftreten.
Anderer extramedullärer Organbefall (9%)
Leukozytose (60%)
Manchmal Knochenschmerzen, die auch Erstsymptom der Erkrankung sein können (insbesondere bei Kindern)
In der Regel entwickeln sich die Krankheitssymptome innerhalb von Tagen und gehen mit einem raschen Verlust der körperlichen Leistungsfähigkeit einher.
Diagnostik
Erstdiagnose
Bei Verdacht auf eine ALL ist die Durchführung einer Knochenmarkuntersuchung obligatorisch. Bei 97% der Patienten weist das Knochenmark eine massive leukämische Infiltration von mehr als 50% mit entsprechender Einschränkung von Erythropoese, Thrombopoese und Granulopoese auf.
Zur Sicherung der Diagnose, zur Durchführung des Staging und der Erfassung möglicher Begleiterkrankungen sind mindestens folgende Untersuchungen notwendig:
Anamnese und körperliche Untersuchung
Allgemeinzustand und Evaluierung von Komorbiditäten
Blutbild, Differentialblutbild, klinische Chemie einschließlich Gerinnungsdiagnostik und Urinanalyse
ggf. HLA-Typisierung (bei potenzieller Indikation für eine Stammzelltransplantation)
Infektiologische Untersuchungen einschließlich Hepatitis-B-, -C- und HIV-Serologie
Schwangerschaftstest
Lumbalpunktion mit zytologischer Liquordiagnostik und intrathekaler Therapie
Bildgebende Untersuchungen (Röntgenthorax, abdominelle Sonographie, ggf. Computertomographie Thorax und Abdomen oder weitere Untersuchungen nach Symptomatik)
EKG und Echokardiographie
Aufklärung über fertilitätserhaltende Maßnahmen und Notwendigkeit der Antikonzeption
Knochenmarksaspirate sollten klinikintern zytologisch und immunologisch untersucht werden. Folgende Untersuchungen sollten, wenn möglich, in einem Referenzlabor durchgeführt werden:
Zytomorphologie/Zytochemie
Immunphänotypisierung Die AIEOP-BFM Gruppe hat ein Konsensus Papier für die immunphänotypische Diagnostik der pädiatrischen ALL erstellt
Molekulargenetik BCR-ABL, KMT2A-AFF1, u. a.
Minimale Resterkrankung (Einsendung von Primärmaterial)
Zytogenetik und Molekularzytogenetik zum Nachweis einer t(9;22); t(4;11), u. a.
Wesentlich ist die Unterscheidung der B- und T-Vorläufer-ALL sowie der weiteren immunologischen Subtypen sowie prognostisch relevanter immunologischer oder zyto- und molekulargenetischer Subgruppen. Zusätzlich müssen Zielstrukturen für die Therapie identifiziert werden. Dazu gehören derzeit die CD20-Expression, sowie die Präsenz einer BCR-ABL-Translokation und der Nachweis von CD19 und CD22. Auch bei älteren Patienten ist eine vollständige Diagnostik, insbesondere wegen der mit dem Alter ansteigenden Inzidenz der Häufigkeit der BCR-ABL-Translokation, unbedingt erforderlich.
Verlaufskontrolle
Für die Quantifizierung der minimalen Resterkrankung (minimal residual disease [MRD]) können verschiedene Verfahren herangezogen werden, z. B. PCR-Analysen von definierten Fusionsgenen oder die Durchflusszytometrie zum Nachweis individueller leukämietypischer Kombinationen von Oberflächenmarkern. Die MRD wird zur verfeinerten Definition des Therapieansprechens herangezogen. Die molekulare komplette Remission (complete remission [CR]), definiert als negativer MRD-Status, ist ein wichtiger Endpunkt für die Effektivitätsmessung von Induktions- oder Konsolidationstherapien.
MRD ist zu jedem Zeitpunkt unter und nach Therapie ein hochsignifikanter Prognosefaktor. Das frühe Erreichen einer molekularen CR charakterisiert eine Subgruppe von Patienten mit sehr günstiger Prognose, während Patienten mit persistierender MRD oder molekularem Rezidiv nach der ersten Konsolidationsphase eine hohe Rezidivrate haben. Unter Therapie und im ersten Jahr nach Therapieende sollten die Kontrollen etwa alle zwei bis drei Monate erfolgen.
Nachsorge
Auch nach Ende der Therapie können weiterhin bis zu fünf Jahre nach Erstdiagnose Rezidive auftreten. Danach nimmt die Rezidivwahrscheinlichkeit stark ab. Weitere regelmäßige Blutbild- und Knochenmarkkontrollen sind daher erforderlich. MRD-Untersuchungen sollten im ersten Jahr nach Therapieende noch dreimonatlich, im folgenden Jahr halbjährlich durchgeführt werden, um ggf. auftretende molekulare Rezidive zu detektieren.
Kontrolluntersuchungen dienen auch der Erfassung von Spätfolgen der Therapie. Dabei kann es sich um aseptische Knochennekrosen nach Kortison, MDS, Zweitmalignome, z. B. Entwicklung einer AML, Infertilität, hormonelle Störungen und psychischen Erkrankungen handeln. Die überwiegende Zahl der ALL-Patienten in Langzeitremission ist jedoch als geheilt anzusehen und leidet unter keinen Spätkomplikationen.
Therapie
Die Therapie der ALL basiert auf einem mehrphasigen Behandlungsansatz, der eine Induktionstherapie, Konsolidierungstherapie und Erhaltungstherapie umfasst.
Induktionstherapie
Ziel: Erreichen einer kompletten Remission (CR), wobei der Blastenanteil im Knochenmark auf unter 5% reduziert wird.
Vorphase-Therapie: Eingesetzt wird Dexamethason und Cyclophosphamid, um ein Tumorlyse-Syndrom zu vermeiden, insbesondere bei Patienten mit Hyperleukozytose.
Standardmedikamente: Vincristin, Dexamethason und ein Anthrazyklin-Derivat (meist Daunorubicin oder Doxorubicin) in Kombination mit Asparaginase. In den GMALL-Studien wird die pegylierte Form von Asparaginase bevorzugt, um eine verlängerte Wirkdauer zu erreichen.
Neuerungen: Intensivierung der Asparaginase-Therapie durch Dosiserhöhung, Einsatz von Anti-CD20-Antikörpern bei CD20-positiver ALL und Imatinib bei Ph-positiver ALL.
Kinder: Bei Kindern erfolgt die Induktionstherapie oft mit einer Kombination aus Prednison (oder Dexamethason), Vincristin, Daunorubicin, Asparaginase und weiteren Zytostatika wie Methotrexat und Cyclophosphamid. Der Einsatz von pegyliertem Asparaginase ist auch bei Kindern üblich.
Konsolidationstherapie
Ziel: Aufrechterhaltung der Remission und Verhinderung eines Rückfalls.
Therapiestrategie: Zyklische Konsolidationstherapie mit wechselnden Substanzen, intensiver Einsatz von hochdosiertem Methotrexat und Hochdosis-Cytarabin, sowie Wiederholung der Induktionstherapie (Reinduktion).
Wichtigkeit: Eine zeitnahe Durchführung der Therapieblöcke ist entscheidend für den Therapieerfolg.
Erhaltungstherapie
Ziel: Langfristige Aufrechterhaltung der Remission und Minimierung des Rezidivrisikos.
Medikamente: Einsatz von Mercaptopurin (oder Thioguanin) und Methotrexat, üblicherweise über einen Zeitraum von zwei Jahren.
Strategie: Die Entscheidung über Dauer und Intensität wird durch den Verlauf der minimalen Resterkrankung (MRD) beeinflusst, wobei eine abschließende Auswertung der GMALL-Studien noch aussteht.
Stammzelltransplantation (SZT)
Ziel: Wird insbesondere bei Hochrisikopatienten angestrebt, um eine langfristige Remission zu sichern.
Typen: Allogene SZT, sowohl mit Familien- als auch Fremdspendern. Autologe SZT wird nur selten durchgeführt, wenn kein allogener Spender verfügbar ist und ein negativer MRD-Status vorliegt.
Nicht-myeloablative SZT: Eine Option für ältere Patienten oder solche mit Kontraindikationen für eine konventionelle SZT.
Kinder: Bei Kindern wird die SZT in erster Remission nur bei eindeutig erhöhtem Rezidivrisiko (z.B. bei bestimmten genetischen Aberrationen) in Erwägung gezogen. Ansonsten wird die Therapie ohne SZT fortgesetzt, da viele Kinder mit konventioneller Chemotherapie eine hohe Überlebensrate erreichen.
ZNS-Prophylaxe
Ziel: Verhinderung von ZNS-Rezidiven, die bei bestimmten Risikogruppen (z.B. T-ALL, reife B-ALL) besonders wahrscheinlich sind.
Therapieoptionen: Intrathekale Therapie mit Methotrexat, Dreifachkombinationen (Methotrexat, Cytarabin, Steroid), systemische Hochdosistherapie mit Methotrexat und/oder Cytarabin, sowie Schädelbestrahlung.
Bei initialem ZNS-Befall: Intensivierte intrathekale Therapie mit häufigen Gaben bis zur Blastenclearance und zusätzlichen Konsolidierungsgaben.
Therapie der Ph/BCR-ABL-positiven ALL
Ziel: Verbesserung der Prognose durch den Einsatz von Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI), insbesondere Imatinib.
Therapieansatz: Kombination von Imatinib mit intensiver Chemotherapie bei jüngeren Patienten, was die Remissionsraten deutlich verbessert.
Langzeitstrategie: Die SZT bleibt die einzige Möglichkeit zur Erzielung einer Langzeitremission, wobei der Einsatz von Imatinib nach der Transplantation geprüft wird.
Prognose
Die Heilungsrate nach intensiver Therapie liegt heutzutage bei 40-50% bei Erwachsenen und bei ca. 85% bei Kindern. Die aktuell gültigen Prognosefaktoren in den Studien der GMALL sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst.
Tabelle 1: Ungünstige Prognosefaktoren bei der ALL des Erwachsenen
Prognosefaktor
Beschreibung
Hohe Leukozytenzahl
> 30.000/µl bei B-Vorläufer-ALL
Subtyp
pro B, early T, reife T
Späte CR
> 3 Wochen (nach zweiter Induktion)
Zytogenetische / Molekulare Aberrationen
t(9;22) - BCR-ABL t(4;11) - KMT2A-AFF1
Karyotyp
Komplex aberrant
Minimale Resterkrankung
MRD-Niveau über 10-4 nach Frühkonsolidation MRD-Anstieg über 10-4 nach molekularer CR
Anhand dieser Faktoren werden die Risikogruppen definiert:
Hochrisikogruppe (mindestens ein ungünstiger Prognosefaktor)
Prophylaxe
Strategien zur Prävention einer Leukämieerkrankung gibt es nicht. Jedoch hat die Durchführung einer effektiven Prophylaxe von ZNS-Rezidiven in der Therapie der ALL einen entscheidenden Stellenwert. Risikofaktoren für die Entwicklung von ZNS-Rezidiven sind T-ALL, reife B-ALL/Burkitt-Leukämie sowie eine hohe Leukozytenzahl bei Diagnosestellung. Folgende Therapiemodalitäten stehen zur Verfügung:
intrathekale Therapie mit Methotrexat
mit einer Dreifachkombination (Methotrexat, Cytarabin, Steroid)
systemische Hochdosistherapie mit Methotrexat und/oder Cytarabin