Viele Fälle von Anorexie kommen erst im fortgeschrittenen Stadium in Therapie. Eine frühzeitige Diagnose und Therapie verbessert die Prognose der Betroffenen, zu über 90 % Mädchen und Frauen, erheblich. Daher sollten Haus- und Kinderärzte auf die Red Flags der Erkrankung achten.
Kennzeichnend für die Anorexia ist ein absichtlich selbst herbeigeführter oder aufrechterhaltener Gewichtsverlust, der in der Regel zu einer Unterernährung führt. Je nach Schweregrad der Unterernährung verursacht die Anorexia endokrine und metabolische Veränderungen und führt zu körperlichen Funktionsstörungen. Die Krankheit hat psychopathologische Ursachen. Die Betroffenen leiden unter der tiefsitzenden Angst, zu dick zu werden. Die Angst vor dem dicken, schlaffen Körper beherrscht ihre Gedankenwelt und treibt sie dazu, eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst festzulegen. Das Erreichen dieses Sollwerts stellt einen hohen Wert und ein übergeordnetes Ziel für die Betroffenen dar. Zu den Symptomen gehören eingeschränkte Nahrungsauswahl, übertriebene körperliche Aktivitäten, selbstinduziertes Erbrechen und Abführen sowie der Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika. Anorexia ist in erster Linie eine Erkrankung heranwachsender Mädchen und junger Frauen. Weit seltener erkranken heranwachsende Jungen, junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause daran. Ältere Personen erkranken in der Regel nicht an einer Anorexia nervosa.
Man unterscheidet:
Anorexia nervosa, restriktiver Typ: Beim restriktiven Typ der Anorexia nervosa schränken die Patienten die Nahrungsaufnahme ein und treiben manchmal exzessiv Sport, haben aber keine Essanfälle und zeigen kein Purging-Verhalten.
Anorexia nervosa, Binge-Purging-Typ: Bei diesem Typ fördern die Betroffenen den Gewichtsverlust durch Purging-Verhalten sowie durch andere Maßnahmen zur Entfernung aufgenommener Kalorien. Heißhungerattacken können auftreten.
Sonstige und nicht näher bezeichnete Anorexia nervosa.
Atypische Anorexia nervosa
Diese Erkrankung weist einige Merkmale der Anorexia nervosa auf, es fehlen jedoch einzelnen entscheidende Symptome, um die Diagnose zu stellen. Zu den fehlenden Schlüsselsymptomen können im Einzelfall Untergewicht, die ausgeprägte Angst vor dem Dicksein oder die Amenorrhoe gehören. Normal- oder übergewichtige Patientinnen mit atypischer Anorexia weisen als Merkmal ihrer Anorexie eine drastische Gewichtsabnahme auf. Häufig waren diese Patientinnen vor der Erkrankung an atypischer Anorexia übergewichtig oder adipös. Die atypische Anorexia ohne Untergewicht wird häufig unterschätzt, dabei zeigen die Betroffenen ähnliche physische und psychische Störungen und Erkrankungen wie untergewichtige Patientinnen mit Anorexie. Wenn eine körperliche Erkrankung als Ursache für den Gewichtsverlust diagnostiziert wurde, darf die Diagnose atypische Anorexia nervosa nicht gestellt werden.
Epidemiologie
Die Prävalenz der Anorexia nervosa liegt in Europa zwischen 0,5 bis 2%. Mädchen und Frauen sind etwa 10-12mal häufiger von dieser Erkrankung betroffen als Jungen und Männer. Heranwachsende Mädchen und junge Frauen repräsentieren eine Hochrisikogruppe für die Anorexia – der Höchststand der Erkrankung wird in der Altersgruppe von 13 bis19 Jahren erreicht. Laut der American Psychiatric Association liegt die 12-Monats-Prävalenz von Anorexia für Frauen im Risikoalter zwischen 15 und 35 Jahren bei etwa 0,4%. In einer finnischen Zwillingskohorte ermittelten die Wissenschaftler eine Lebenszeitprävalenz der Anorexia bei Frauen von 2,2%.
Übersterblichkeit durch Anorexia
Anorexia gehört seit Jahren zu den psychischen Erkrankungen mit den höchsten Mortalitätsraten. Die Übersterblichkeit durch Anorexia beträgt je nach Studie zwischen 3,3 und 10,5 (Standardized Mortality Rate [SMR]). In einer Langzeitstudie mit Patientinnen der Roseneckklinik lag die standardisierte Mortalitätsrate durch Anorexia über alle Beobachtungszeiträume beim 5,35-fachen der Normalbevölkerung.
Ursachen
Patientinnen mit Anorexia leiden unter der Angst zu dick zu sein und/oder zu dick zu werden. Diese Angst treibt sie an, ihr Körpergewicht stark zu reduzieren oder ihr bereits erzieltes Untergewicht zu halten. Wenn Patientinnen mit Anorexia auf die Gewichtsabnahme oder ihr Untergewicht angesprochen werden, erzählen sie nicht unbedingt von ihrer Angst vor dem Dicksein. Sie können diese Angst bewusst verschweigen oder sich nicht darüber bewusst sein, dass es tatsächlich Angst ist, die sie zu ihrem Essverhalten oder anderen Maßnahmen der Gewichtsreduktion motiviert. Gleichzeitig haben viele Patientinnen mit Anorexia eine körperdysmorphe Störung (Körperbildstörung oder Körperschemastörung), d.h. sie nehmen sich trotz ihres Normal- oder Untergewichts als zu dick wahr. Das ist für viele Patientinnen mit Anorexie besonders belastend, weil sie ihren Selbstwert in hohem Maße über ihre Figur und ihr Körpergewicht definieren. Die Kontrolle des Gewichts kann auch ein Ausdruck des Strebens nach Selbstkontrolle sein.
Risikofaktoren
Zur Hauptrisikogruppe gehören heranwachsende Mädchen und junge Frauen. Daneben erhöhen folgende Faktoren das Risiko für die Erkrankung an Anorexia:
Eine genetische Prädisposition für die Anorexia ist wahrscheinlich. Bei weiblichen Angehörigen ersten Grades wurde im Vergleich zu Frauen ohne familiäre Belastung ein ca. 11-fach höheres Risiko für Anorexia beobachtet. Bei Männern spielt eine erbliche Prädisposition womöglich eine noch stärkere Rolle.
Gestörtes Essverhalten (z. B. Fütterstörung) und gastrointestinale Probleme im Säuglings- und Kleinkindalter sind mit einem erhöhten Risiko für die Erkrankung an Anorexia assoziiert.
Auch Überangepasstheit in der Kindheit und mangelnde Entwicklung eines positiven Selbstwert- und Körpergefühls erhöhen das Anorexia-Risiko, denn gesellschaftliche Normen und Schönheitsideale, wie das Ideal eines sehr schlanken Körpers, üben auf Mädchen oder junge Frauen mit einem geringen Selbstwertgefühl einen sehr starken Druck aus.
Berufstätigkeit in der Unterhaltungs- oder Modebranche.
Eine weitere bedeutende Risikogruppe sind Menschen, die exzessiv Sport, Leistungssport oder Wettkampfsport treiben oder klassisches Ballett tanzen. Bei bestimmten Sportarten sind ein geringes Körpergewicht und sehr schlanker Körper von besonderer Bedeutung, wie beispielsweise bei Turnerinnen, Eisläuferinnen, Skispringern und Jockeys.
Pathogenese
Die Entwicklung einer Anorexia ist wahrscheinlich die Folge des Zusammenwirkens von genetischen, psychischen, familiären, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren (multikausales Geschehen). Eine vermehrte Aufmerksamkeit der Angehörigen, von Freunden oder dem sozialen Umfeld als Reaktion auf die Gewichtsabnahme der Betroffenen kann als sekundärer Verstärker für die Anorexia wirken. Hierzu gehören sowohl Komplimente und Lob (vor allem im Anfangsstadium z. B. für die schlanke Figur, das Tempo der Gewichtsabnahme oder die Selbstdisziplin der Betroffenen), als auch die Besorgtheit von Angehörigen, Freunden und Lehrern in fortgeschrittenen Stadien. Wenn die Erkrankung in der Pubertät und Adoleszenz beginnt, kann sie zu einer Beeinträchtigung der psychischen und körperlichen Entwicklung führen. Verzögerungen in der schulischen und beruflichen Ausbildung werden häufig beobachtet. Eine über Jahre andauernde Anorexia kann zu einem Teil der Identität werden, den die Betroffenen kaum aufgeben können.
Das gesundheitliche Risiko, das die Essstörung und das Untergewicht beinhaltet, wird von den Betroffenen häufig nicht wahrgenommen oder verdrängt. Viele zeigen keine oder nur eine geringe Krankheitseinsicht.
Begleiterkrankungen und Folgeschäden der Anorexia
Eine Anorexie kann je nach Stärke des Untergewichts, Dauer der Erkrankung und Maßnahmen zur Gewichtsreduktion zahlreiche und vielfältige Störungen und Erkrankungen nach sich ziehen. Hierzu gehören:
Mitralklappenprolaps: Bei starkem Untergewicht stellen die arrhythmogenen Effekte eines Mitralklappenprolaps einen Risikofaktor dar
Perikarderguss
Veränderungen der gastrointestinalen Motilität
Erkrankungen des Darms ohne erkennbare Ursache
Zöliakie und Morbus Crohn sind Differenzialdiagnosen zur Anorexia. Sie können aber auch als Begleiterkrankungen der Anorexia auftreten und stehen mitunter in Wechselwirkung zu dieser Essstörung
Akrozyanose: geht mit einem erhöhten Risiko für Erfrierungen an den Akren ein
Folgen häufigen Erbrechens: Zahnschäden, Veränderungen der Mundschleimhaut, Vergrößerung der Ohrspeicheldrüsen und Zungengrundspeicheldrüsen, Schwielen am Handrücken der dominanten Hand (Russell’s Sign) bei Patientinnen, die häufig erbrechen, Erhöhung der Speichel-Amylase im Serum
Hautveränderungen: Trockene Haut, Haarverlust, Akne, Störungen der Hautpigmentierung, Gelbfärbung der Haut bei Hyperkarotinämie, Petechien, neurodermitische Veränderungen, Livedo-Vaskulitis, Intertrigo, generalisierter Juckreiz, Hautinfektionen und Striae distensae. Bei untergewichtigen Patientinnen besteht häufig eine typische Lanugo-Behaarung.
Psychologische Veränderungen: Zu Beginn berichten die Betroffenen von Gefühlen wie Leichtigkeit, Kontrolle und Euphorie. Später empfinden sie eher Gleichgültigkeit, Reizbarkeit und Niedergeschlagenheit bis hin zur Depressivität. An den Betroffenen fallen mitunter rigides Denken, ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle – bis hin zu zwanghaftem Denken und Verhalten –, eine Konfliktvermeidung und Schwierigkeiten im Umgang mit negativen Affekten (v. a. Ärger und Wut) sowie mangelnde Spontaneität auf.
Bei etwa einem Drittel der Anorexia-Betroffenen kommt es zu einer Atrophie der grauen Gehirnsubstanz um durchschnittlich um 18 Prozent und einer Erweiterung der äußeren und inneren Liquorräume. Die Veränderungen des Gehirns können reversibel sein kann, wenn die Betroffenen wieder an Gewicht zunehmen
Symptome
Kardinalsymptom für die Anorexia ist eine selbst herbeigeführte, drastische Gewichtsreduktion mit einem sehr niedrigen Körpergewicht als Ziel oder das aktive Erhalten eines Untergewichts. Als charakteristisches Motiv für dieses Verhalten gilt die Angst vor dem Dicksein, auch wenn die Patientin diese nicht ausspricht oder sogar verneint. Zu den Symptomen einer Anorexia zählen auch, eine hohe Bedeutung von Figur und Körpergewicht für das Selbstwertgefühl der Patientin und /oder das Streben nach Selbstkontrolle, die häufig als defizitär empfunden wird. Ausdruck des Strebens nach Kontrolle ist beispielsweise auch das ausgeprägte Checking Behavior, wie z. B. hochfrequentes Wiegen und Messen des Umfangs von Körperteilen, das Messen von Hautfaltendicken und die kritische Begutachtung des Körpers im Spiegel. Viele Betroffene haben auch eine körperdysmorphe Störung.
Maßnahmen zur Gewichtskontrolle
Zur Gewichtskontrolle werden Maßnahmen zur Einschränkung der Kalorienzufuhr eingesetzt, die von den Patientinnen im Einzelfall durch Maßnahmen zur Steigerung des Kalorienverbrauchs und zur raschen Entfernung von aufgenommener Nahrung und Flüssigkeit ergänzt werden.
Einschränkung der Kalorienzufuhr
Patienten mit Anorexia setzen ein Bündel zielgerichteter Maßnahmen ein, um ihre Kalorienzufuhr zu drosseln, um ihr Gewicht zu halten oder weiter zu verringern:
Vermeiden von hochkalorischen, fetthaltigen oder kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln
Verzicht auf einen Menugang (z. B. das Dessert) oder einer ganzen Mahlzeit
Ausspucken von Nahrung nach dem Kauen
Bilanzieren des Kaloriengehalts von Mahlzeiten
Abwiegen aller Nahrungsmittel
Vermeiden von Gerichten, deren Kaloriengehalt nicht eindeutig bestimmbar ist.
Verwenden von Light-Produkten, Süßstoffen und Fettersatzstoffen.
Verwenden von pharmakologischen Appetitzüglern, Nikotin, Kokain oder anderer Stimulantien zur Appetitkontrolle
Verändern des Mahlzeitenrhythmus (Nur eine einzige Mahlzeit pro Tag oder strukturiertes Snacken)
Exzessive Flüssigkeitszufuhr vor den Mahlzeiten, um die Nahrungsaufnahme zu begrenzen
Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr, um die Nahrungsaufnahme z. B. durch Mundtrockenheit zu limitieren
Aufnahme von unattraktiven oder z. B. durch Versalzen oder scharfe Gewürze ungenießbar gemachten Nahrungsmitteln
Selbstkonditionierung über Ekel, um die Zufuhr von attraktiven Nahrungsmitteln zu blockieren (z. B. die Vorstellung, dass Schokolade durch Mäusekot verunreinigt ist)
Allein essen, um eine Ablenkung beim Essen oder andere soziale Einflüsse zu vermeiden.
Tragen einengender Bauchgürteln oder beengender Kleidung, sowie Anspannen der Muskulatur, um beim Essen ein frühzeitiges Völlegefühl zu erzeugen
Zungenpiercings tragen oder sich selbst im Mundraum verletzen, um die Nahrungsaufnahme zu erschweren
Steigerung des Kalorienverbrauchs und Entfernung aufgenommener Nahrung und Flüssigkeit
Zusätzlich zur Kontrolle und Limitierung der Kalorienzufuhr versuchen viele Patientinnen über die folgenden Verhaltensweisen aufgenommene Energie oder Flüssigkeiten rasch zu verbrauchen oder aus dem Organismus zu entfernen:
Purging-Behavior: mechanisch oder chemisch ausgelöstes Erbrechen sowie Einnahme von Laxanzien
Einnahme von Diuretika
Einnahme von Schilddrüsenhormonen zur Umsatzsteigerung
Exposition gegenüber Kälte oder Hitze (z. B. Sauna)
Patienten mit Diabetes mellitus Typs I reduzieren mitunter ihre Insulindosis oder lassen das Insulin völlig weg, um einen renalen Verlust von Glukose zu induzieren
Problematisches Bewegungsverhalten, das von einer starken, starvationsbedingten psychomotorischen Unruhe über zwanghaft-exzessives Sporttreiben bis hin zur Sportsucht im engeren Sinne reichen kann
Diagnostik
Je eher Patientinnen mit Anorexia professionelle Unterstützung bekommen, desto besser ist ihre Prognose. Leider suchen Patientinnen mit einer Essstörung bzw. deren Angehörige und Freunde meist erst in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung professionelle Hilfe.
Red Flags für eine mögliche Anorexie
Eine Früherkennung erfolgt in der Regel nur, wenn Ärzte oder Psychologen für Red Flags auf eine Anorexia sensibilisiert sind und sie mit der Patientin bzw. deren Eltern besprechen. Zu diesen Warnhinweisen gehören:
niedriges Körpergewicht
starker Gewichtsverlust
Amenorrhö
Infertilität
Zahnschäden
Sorgen über das Gewicht
gastrointestinale Störungen unklarer Ursache
Wachstumsverzögerungen bei Kindern und Jugendlichen
exzessive sportliche Aktivität
Eltern, die sich über Gewicht und Essverhalten ihres Kindes sorgen
Vorsorgeuntersuchung von Kindern zwischen 12 und 14 Jahren
Im Rahmen der J1-Vorsorgeuntersuchung zwischen 12 und 14 Jahren sollten Kinder- oder Hausärzte gezielt und altersangemessen nach Essverhalten und Gewichtsverlauf fragen.
Diagnosekriterien für eine Anorexia
Derzeit gelten für Anorexia noch die folgenden Diagnosekriterien der ICD-10:
Körpergewicht mindestens 15 Prozent unterhalb der Norm oder BMI < 17,5 kg/m2
Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt
Körperbildstörung
Vorliegen einer endokrinen Störung (z. B. Amenorrhöe oder eine Verzögerung der Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte)
Mit der Einführung der ICD-11 gelten folgende Diagnosekriterien für Anorexia :
BMI < 18,5 kg/m2 bei Erwachsenen und ein Unterschreiten der 5. Altersperzentile bei Kindern und Jugendlichen (Das Untergewicht darf nicht auf eine andere Erkrankung oder die Nicht-Verfügbarkeit von Nahrung zurückzuführen sein).
Maßnahmen, die eine Wiederherstellung eines normalen Körpergewichts verhindern: restriktives Essverhalten, selbstinduziertes Erbrechen, der Missbrauch von Abführmitteln und exzessives Sporttreiben.
Körpererleben: Der Körper wird trotz Untergewichts entweder als normal bzw. als „zu dick“ erlebt (Körperbildstörung), oder Körpergewicht und Figur sind zentral für die Selbstbewertung.
Da das Kriterium der endokrinen Störung aus ICD-10 bei Patientinnen vor der Menarche, bei der Einnahme von Kontrazeptiva und bei Männern nicht anwendbar ist, wird es in die neuen Diagnosekriterien nicht aufgenommen.
Erwartete neue Unterteilung der Anorexia in ICD-11
Aufgrund der prognostischen Relevanz des Grades des Untergewichts wird für die ICD-11 vorgeschlagen, eine Anorexia mit deutlichem Untergewicht (BMI < 18,5 kg/m2 und > 14,0 kg/m2 bzw. zwischen der 5. und der 3. Perzentile) von einer Anorexia mit gefährlich niedrigem Körpergewicht (BMI < 14 kg/m2 bzw. < 3. Altersperzentile) zu unterscheiden. In jeder der Untergewichtsgruppen sollen darüber hinaus ein restriktiver Typ und ein „binge-purging“ Typ unterschieden werden.
Männliche Patienten
Männliche Patienten mit einer Anorexia sind in Studien unterrepräsentiert. Daher orientieren sich diagnostischen Kriterien und die bislang entwickelten Instrumente zur Erfassung des Störungsbildes an Mädchen und Frauen.
Internistische Untersuchung bei Verdacht auf Anorexia
Da das Körpergewicht zu den grundlegenden Kriterien für die Diagnose Anorexia gehört, muss dem Wiegen der Patientinnen und der Messung der Körperlänge besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Wiegen der Patienten in Unterbekleidung ohne Schuhe mit geeichter Waage
Bewertung des Body Mass Index (BMI = kg/m2) mithilfe entsprechender Normbereiche und altersbezogenen Perzentilkurve oder vergleichbarer Formeln
Bewertung des Gewichtsverlauf (Geschwindigkeit der Gewichtsreduktion
World Health Organisation (WHO) Einteilung des BMI in Untergewicht bis Adipositas
Ein sehr niedriger BMI bedeutet ein erhöhtes Sterberisiko. Bei einem BMI von unter 15 kg/m2 bei Erwachsenen sollte eine Einweisung ins Krankenhaus für eine störungsorientierte stationäre Behandlung erwogen werden.
Weitere internistische Untersuchungen
Aufgrund der zahlreichen und vielfältigen Gesundheitsstörungen infolge einer Anorexia muss eine umfassende körperliche Untersuchung mit Berücksichtigung aller Organsysteme erfolgen.
Laboruntersuchungen
Zu den empfohlenen Laboruntersuchungen gehören:
Blutbild: Etwa ein Drittel der Patientinnen weist eine milde Leukopenie auf, 5% eine Thrombozytopenie. Hämatokrit und mittleres korpuskuläres Volumen (MCV) befinden sich meist im unteren Referenzbereich. Ausgeprägte Veränderungen des Blutbilds sind Gefahrenindikatoren, bei denen eine stationäre Behandlung erwogen werden muss.
Elektrolyte: Häufiges Erbrechen oder Wiederernährung können die Elektrolytkonzentrationen schnell verändern. An häufigsten tritt eine Hypokaliämie (ca. 20%) auf. Sie ist ein Gefahrenindikator insbesondere in Verbindung mit EKG-Veränderungen. Eine stationäre Behandlung muss erwogen werden. Bei Dehydratation kann sich die Kaliumkonzentration im Serum im Referenzbereich befinden, das intrazelluläre Kalium jedoch erheblich vermindert sein. Darüber hinaus können Hyponatriämie, Hypokalzämie, Hypophosphatämie und Hypomagnesiämie auftreten.
Die Blutglukose ist meist im unteren Referenzbereich. Bei Infektionskrankheiten oder Intoxikationen können lebensbedrohliche Hypoglykämien auftreten. Eine Glukosekonzentration von weniger als 60 mg/dl ist ein Gefahrenindikator. Eine stationäre Behandlung muss erwogen werden.
Niere: Kreatinin liegt meist im unteren Referenzbereich. Chronische Hypokaliämie kann – vor allem bei Laxantienmissbrauch und andauerndem Erbrechen - bei einzelnen Patientinnen zu Nierenversagen durch hypokaliämische Nephropathie führen. Bereits geringfügige Überschreitungen des oberen Referenzbereichs sollten deshalb zu weiterer Diagnostik führen.
Leber: Überschreitungen der Referenzbereiche sollten zu weiterer Diagnostik führen, da bei Anorexia eine akute schwere Schädigung der Leber auftreten kann.
Schilddrüse: Die Konzentration von Trijodthyronin ist regelmäßig vermindert („low-T3-Syndrom“). Die Empfehlung, ausschließlich TSH zu bestimmen, richtet sich auf die Notwendigkeit, nicht direkt mit einer Essstörung in Beziehung stehende Schilddrüsenerkrankungen auszuschließen.
Weiterführende Diagnostik
Falls der Verdacht auf eine Anorexie fortbesteht, sollte eine klassifikatorische Diagnostik systematisch anhand der aktuellen Diagnosekriterien des DSM oder ICD durchgeführt werden, idealerweise anhand Leitfäden oder validierter diagnostischer Interviews.
Zur differenzialdiagnostischen Abklärung des Einzelfalls sollte frühzeitig eine Mitbeurteilung durch eine ärztliche Psychotherapeutin, Psychologische Psychotherapeutin oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin vorgenommen werden.
Differenzialdiagnosen
Die Abgrenzung einer Anorexia mit leichtgradigem Untergewicht zu konstitutionellen Formen von Untergewicht kann in manchen Fällen schwierig sein. Bei konstitutionellem Untergewicht fehlen die psychologischen Merkmale einer Essstörung, die endokrinologischen Funktionen sind unauffällig und die Patientinnen menstruieren.
Gastrointestinale Erkrankungen (Magen- oder Duodenalulcera, chronische Pankreatitis, intestinale Parasitosen, Bindegewebsstörungen mit Beteiligung des Gastrointestinaltraktes wie Sklerodermie)
Therapie
Die Behandlung einer Anorexia sollte aufgrund der Gefahr einer Chronifizierung so früh wie möglich erfolgen. Ein multi- und interdisziplinärer „Gesamtbehandlungsplan“ ist erforderlich, bei dem Psychotherapeuten (Einzel- und Familiengespräche), ein Haus- bzw. Facharzt, sowie ggfs. Sozialarbeiter, Ernährungsberater und Spezialtherapeuten (z. B. Körpertherapeuten) einbezogen werden. Die Therapie sollte offen und auf Augenhöhe mit der Patientin besprochen werden, um eine gute Therapieadhärenz zu fördern. Bei Kindern und Jugendlichen müssen die Angehörigen in die Therapie integriert werden. Der Umzug in eine therapeutische Wohngruppe kann erwogen werden, wenn die Unterstützung in der häuslichen Situation nicht ausreichend oder nicht gesundheitsförderlich ist oder die Anorexia chronifiziert ist.
Therapieziele
Die Therapie der Anorexie verfolgt folgende Ziele:
Das Erreichen und das Halten eines für Alter und Größe angemessenen Körpergewichts
Die Normalisierung des Essverhaltens
Die Behandlung der körperlichen Folgen der Anorexie
die Behandlung der Schwierigkeiten auf emotionaler, kognitiver und interaktioneller Ebene, die den Störungen der Betroffenen zugrunde liegen
Die soziale Integration zu unterstützen, um ein „Nachholen“ verpasster Entwicklungsschritte zu fördern
Behandlungssettings und Strategien
In Deutschland sind drei Behandlungssettings bei Anorexia möglich:
Das stationäre Setting
Das teilstationäre/tagesklinische Setting
Das ambulante Setting
Unterschiedliche Settings können aufeinander folgende Abschnitte der Therapie darstellen (stepped- care).
Eine Indikation für intensivere Behandlungssettings, wie z. B. stationäre Therapie, tagesklinische Behandlung oder eine Kombination von Therapieansätzen im ambulanten Rahmen, wie z. B. Einzel- und Gruppentherapie sowie Körperpsychotherapie) besteht, wenn der körperliche und psychische Entwicklungsprozess bei einer ambulanten Psychotherapie stagniert oder sich das Krankheitsbild bzw. sich die psychische und/oder soziale Situation verschlechtert. Aufgrund der körperlichen Gefährdung oder einer geringen Krankheitseinsicht kann eine stationäre Therapie im Einzelfall auch als initialer Behandlungsabschnitt notwendig sein.
Zwangsbehandlung
Wenn eine körperliche Gefährdung besteht und die Patientin die medizinisch erforderliche Behandlung ablehnt, muss geklärt werden, inwieweit Symptome und Folgen der Erkrankung die Einsichts- und/oder Entscheidungsfähigkeit der Patientin so weit beeinträchtigen, dass Interventionen gegen ihren Willen im Sinne einer Zwangsbehandlung erwogen werden müssen. Da eine Zwangsbehandlung die vom Grundgesetz nach Art. 2, Abs. 2 geschützte Freiheit und körperliche Unversehrtheit verletzt, muss das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen sorgfältig geprüft werden.
Kurzfristig scheint Zwangsbehandlung hilfreich zu sein. Über ihre langfristigen Effekte ist bisher wenig bekannt. Verschiedene Arbeiten verweisen jedoch darauf, dass die Gesamteffekte freiwillig oder unfreiwillig durchgeführter Behandlungen vergleichbar sind und sich auch die Sterbe- und Suizidraten in beiden Gruppen nicht signifikant unterscheiden.
Prognose
Anorexien dauern meist mehrere Jahre an und haben einen variablen Verlauf. In einer Studie war das Körpergewicht von 67% der Betroffenen nach 5 Jahren im Normbereich, die Patientinnen menstruierten wieder und litten nach Selbstauskunft weder unter Essattacken noch unter selbstinduziertem Erbrechen. In einem Review in dem 119 Studien mit insgesamt 5.590 Patientinnen ausgewertet wurden, erreichten 60 bis73% ein angemessenes Gewicht. Die Heilungsraten lagen bei 50%. Eine Teilremission erreichten 30% der Patientinnen und bei 20% blieb die Erkrankung chronisch. Im langfristigen Verlauf zeigen viele Betroffene auch nach Remission der Essstörung noch erhebliche Probleme im Bereich sozialer Integration und zwischenmenschlicher Beziehungen auf. Andere Arbeiten weisen darauf hin, dass ca. ein Drittel bis die Hälfte der Patientinnen eine Bulimie entwickelt.
Die Mortalitätsrate der Anorexia gehört zu den höchsten bei psychischen Störungen auf. Die Patientinnen sterben infolge der Mangelernährung und durch Suizid. Einer Meta-Analyse zufolge liegt die standardisierte Sterblichkeitsrate bei 5,9%.
Junge Patientinnen haben bessere Prognose
Optimierungen der Therapien haben dazu beigetragen, dass sich die Prognose von jungen Patientinnen bzw. solchen mit Krankheitsbeginn vor dem 17. Lebensjahr in den letzten 2 Jahrzehnten deutlich verbessert hat. Das gilt insbesondere auch für die Mortalitätsrate der behandelten, jungen Patientinnen. Bei einigen Nachbeobachtungen kam es über Jahre zu keinen Todesfällen infolge der Anorexia. Bei erwachsenen Patientinnen bzw. Patientinnen, die erst im erwachsenen Alter erkrankten, konnte die Prognose nicht vergleichbar verbessert werden.
Die Zahl der verfügbaren Verlaufsstudien ist limitiert. Darüber hinaus beziehen sie sich in der Regel auf Patientinnen, die medizinische oder psychologische Hilfe in Anspruch nahmen. Über den Verlauf der Erkrankung ohne professionelle Begleitung und die Rate an Spontanremissionen ist wenig bekannt.
Prognostisch relevante Faktoren
Die Prognose bei Anorexia wird durch verschiedene Faktoren negativ oder positiv beeinflusst.
Darüber hinaus scheinen die Folgen des Hungerzustandes (Starvation) zur Aufrechterhaltung der Psychopathologie der Anorexia beizutragen.
Prognostisch positive Faktoren
Purging-Verhalten
Impulsivität
Gutes Selbstwertgefühl
Geringere Essstörungspsychopathologie
Hohe Behandlungsmotivation
Fehlen einer komorbiden Depression und Trait-Ängstlichkeit
Eine bislang unauffällige körperliche und soziale Entwicklung
Ein identifizierbares, belastendes Lebensereignis, das die Essstörung ausgelöst hat
Prophylaxe
Eine Prophylaxe im medizinischen Sinne gibt es für die Anorexia nicht. Falls Eltern den Verdacht haben, dass ihr Kind eine Essstörung entwickelt, können sie nicht nur bei ihrem Arzt, sondern auch bei der Organisation ANAD e. V. (Anorexia Nervosa and Associated Disorders/www.anad.de) beraten lassen.
Rückfallprophylaxe
Nach der Therapie wiesen viele Patientinnen noch Symptome der Erkrankung auf. Die meisten Patientinnen profitieren von einer Nachsorge. Daher sollte eine „Rückfallprophylaxe“ nach jeder Therapie angeboten werden.
Hinweise
Patientinnen mit Anorexia leiden häufig unter weiteren psychischen Erkrankungen, vor allem Depressionen, Angststörungen (häufig soziale Phobien), Zwangserkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen. Darüber hinaus beobachtet man prämorbide Persönlichkeitszüge wie erhöhten Perfektionismus und Neurotizismus, erhöhte Vermeidungsmotivation und Belohnungssensitivität sowie schwach ausgeprägte Extraversion und Selbstregulierungsfähigkeit. Die Persönlichkeitszüge und psychischen Komorbiditäten geben Hinweise auf die Ätiologie und die Essstörungspathologie und sind bedeutsam für den Therapieerfolg und die Prognose.
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