Thalidomid und seine Strukturanaloga Lenalidomid und Pomalidomid wirken immunmodulatorisch sowie tumorzid. Die Wirkstoffe werden insbesondere zur Therapie des Multiplen Myeloms angewendet.
Thalidomid ist durch den Contergan-Skandal bekannt. In den 1950er Jahren wurde der Wirkstoff als Schlafmittel (Contergan) eingeführt, allerdings in den 1960er Jahren aufgrund schwerwiegender teratogener Wirkungen (v.a. Phokomelie, Robbengliedrigkeit) wieder vom Markt genommen.
Alle Thalidomid-Analoga sind zur Behandlung des Multiplen Myeloms indiziert. Die Anwendung erfolgt als Kombinationstherapie mit einem antiproliferativen Wirkstoff (Bortezomib, Melphalan) und/oder einem Glucocorticoid (Dexamethason, Prednison). Lenalidomid kann auch als Monotherapie angewendet werden.
Weitere Indikationsgebiete
Thalidomid wird off-label außerdem gegen Lepra angewendet.
Die Indikationsgebiete von Lenalidomid umfassen außerdem:
Myelodysplastische Syndrome mit isolierter 5q-Deletion
Wirkung
Die Thalidomid-Analoga (Immunmodulatory Imide drugs, IMiD) wirken immunmodulatorisch, tumorzid, antiinflammatorisch sowie antiangiogen und hemmen die Bildung verschiedener hämatopoetischer Vorläuferzellen. Die Wirkstoffe binden an das Protein Cereblon (CRBN). Dieses bildet mit dem DNA Damage-Binding Protein 1 (DDB1), Cullin 4 (CUL4) und dem Cullin 1 Regulator (ROC1) einen E3-Ubiquitin-Ligase-Komplex, der zahlreiche Proteine modifiziert und deren proteasomalen Abbau herbeiführt. Die Wirkung auf CRBN ist sowohl für die immunmodulatorische als auch teratogene Wirkung der Substanzen verantwortlich.
Die Bindung an CRBN führt beispielsweise zum Abbau bestimmter Transkriptionsfaktoren wie Ikaros (IKZF1) und Aiolos (IKZF3), was die zytotoxische und immunmodulierende Wirkung bedingt. Die beiden Transkriptionsfaktoren sind beispielsweise essenziell für die Differenzierung und das Überleben von B-Lymphozyten.
CRBN bindet außerdem an die Proteine DC147 (Basisgin, extra-cellular matrix metalloproteinase inducer, EMMPRIN) und MCT1 (Monocarboxylattransporter 1, SLC16A1), die vor allem in Zellen des blutbildenden Systems und Immunzellen vorkommen und eine Rolle bei der Gefäßneubildung und dem Zellstoffwechsel spielen.
CRBN kann außerdem den Transkriptionsfaktor SALL4 (Sal-like protein 4), ein C2H2-Zinkfingerprotein, für den proteasomalen Abbau markieren. SALL4 ist unter anderem für eine korrekte Gliedmaßenentwicklung verantwortlich.
Unabhängig von der E3-Ubiquitin-Ligase-Funktion hat CRBN eine Rolle als transmembran-spezifisches Chaperon für das Heat-Shock-Protein (HSP) 90 und trägt zur korrekten Faltung zahlreicher Signalproteine bei. Deren indirekte Hemmung durch Thalidomid-Analoga bedingt die antiangiogene und antineoplastische Wirkung durch die Blockade der Migration und Adhäsion von Endothelzellen.
Nebenwirkungen
Bei der Therapie mit Thalidomid-Analoga können in Abhängigkeit vom Wirkstoff, der Indikation und der Begleitmedikation zahlreiche, teils schwerwiegende unerwünschte Wirkungen auftreten. Zu den wichtigsten zählen:
Teratogenität
Neutropenie und Thrombozytopenie
Venöse/arterielle Thromboembolie
Periphere Neuropathie
Hämorrhagische Erkrankungen
Allergische Reaktionen und schwere Hautreaktionen
Sekundäre Primärmalignome
Akute myeloische Leukämie (AML) und myelodysplastische Syndrome (MDS)
Tumorlysesyndrom
Wechselwirkungen
Je nach Wirkstoff können sich unterschiedliche Wechselwirkungen ergeben.
Bei der Kombination der Thalidomid-Analoga mit hormonellen Kontrazeptiva ist das Risiko für thromboembolische Ereignisse erhöht.
Im Gegensatz zu Thalidomid und Lenalidomid kann die Plasmakonzentration von Pomalidomid durch das Cytochrom-P450-Enzymsystem beeinträchtigt werden. Wird Pomalidomid zusammen mit CYP1A2-Inhibitoren (z.B. Ciprofloxacin, Enoxacin, Fluvoxamin) angewendet, kann die Pomalidomid-Exposition erhöht sein, weshalb die Dosis des Thalidomid-Analogons um 50% reduziert werden sollte.
Kontraindikation
Thalidomid-Analoga dürfen nicht angewendet werden bei:
Überempfindlichkeit gegen den jeweiligen Wirkstoff
Schwangeren Frauen
Gebärfähigen Frauen (es sei denn, alle Anforderungen des Schwangerschaftsverhütungsprogramms werden erfüllt)
Männlichen Patienten, die die erforderlichen Verhütungsmaßnahmen nicht anwenden können oder wollen
Lenalidomid ist außerdem in der Stillzeit absolut kontraindiziert. Auch die Anwendung von Thalidomid und Pomalidomid wird nicht empfohlen.
Alternativen
Zur Behandlung des Multiplen Myeloms stehen die folgenden Therapieoptionen und Wirkstoffe anderer Substanzklassen zur Verfügung.
Die Therapie mit Thalidomid-Analoga darf nur von Ärzten eingeleitet und beaufsichtigt werden, die Erfahrung in der Anwendung von immunmodulatorischen oder chemotherapeutischen Wirkstoffen haben und denen die Risiken der Behandlung sowie die notwendigen Kontrollmaßnahmen vollumfänglich bekannt sind.
Empfängnisverhütung
Aufgrund der teratogenen Eigenschaften dürfen Thalidomid-Analoga nicht von Schwangeren oder gebärfähigen Frauen eingenommen werden, es sei denn, alle Anforderungen des Schwangerschaftsverhütungsprogramms werden erfüllt.
Die Patientin ist sich des teratogenen Risikos für das ungeborene Kind bewusst und versteht die Notwendigkeit einer zuverlässigen Kontrazeption
Es muss eine zuverlässige Kontrazeption erfolgen, die ohne jegliche Unterbrechung mindestens vier Wochen vor Therapiebeginn, während der gesamten Therapiedauer und mindestens vier Wochen nach dem Ende der Behandlung angewendet wird
Eine zuverlässige Empfängnisverhütung muss auch bei Amenorrhoe erfolgen
Die Patientin muss die zuverlässigen Kontrazeptiven Maßnahmen einhalten können
Geeignete Methoden zur Empfängnisverhütung sind: Hormonimplantate, Levonorgestrel-freisetzendes Intrauterinpessar (IUP), Depot-Medroxyprogesteronacetat, Sterilisation (Tubenligatur), Geschlechtsverkehr ausschließlich mit einem vasektomierten Partner (die Vasektomie muss durch zwei negative Samenanalysen bestätigt sein) oder reine Progesteron-Pillen mit ovulationshemmender Wirkung (Desogestrel)
Die Patientin wurde informiert und versteht die möglichen Konsequenzen einer
Schwangerschaft und die Notwendigkeit, sich bei möglicher Schwangerschaft sofort ärztlich untersuchen zu lassen
Die Patientin versteht die Notwendigkeit, die Behandlung schnellstmöglich zu beginnen, sobald Pomalidomid nach einem negativen Schwangerschaftstest an sie abgegeben wurde
Die Patientin versteht die Notwendigkeit von Schwangerschaftstests und lässt alle vier Wochen einen Schwangerschaftstest (Sensitivität mind. 25 mIE/ml) durchführen (Ausnahme: bestätigte Sterilisation, Tubenligatur)
Die Patientin bestätigt, dass sie die Gefahren und erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen versteht, die mit der Anwendung von Thalidomid-Analoga verbunden sind.
Thalidomid-Analoga treten in die Samenflüssigkeit über. Die folgenden Anforderungen des Verhütungsprogramms gelten daher für Männer, die einen der Wirkstoffe anwenden, unter besonderer Berücksichtigung von Patientengruppen mit potenziell verlängerter Eliminationshalbwertszeit (z.B. eingeschränkte Leberfunktion).
Der Patient ist sich des teratogenen Risikos bewusst, wenn er mit einer schwangeren oder einer gebärfähigen Frau sexuell verkehrt
Der Patient versteht die Notwendigkeit der Verwendung eines Kondoms (auch nach Vasektomie), wenn er während der Behandlung, während Einnahmeunterbrechungen und bis mindestens 7 Tage nach Beendigung der Behandlung mit einer schwangeren oder einer gebärfähigen Frau, die keine zuverlässige Verhütungsmethode anwendet, sexuell verkehrt
Der Patient versteht, dass er bei Eintritt einer Schwangerschaft seiner Partnerin während oder bis zu 7 Tage nach Beendigung der Einnahme von Pomalidomid seinen behandelnden Arzt sofort informieren muss und dass empfohlen wird, die Partnerin zur weiteren Beurteilung und Beratung an einen auf dem Gebiet der Teratologie spezialisierten oder hierin erfahrenen Arzt zu überweisen
Verschreibung
Eine Verordnung von Thalidomid und seinen Analoga ist ausschließlich über die zweiteiligen, nummerierten und personengebundenen T-Rezepte möglich. Verschreibende Ärzte müssen die Formulare beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) anfordern.
Für Frauen im gebärfähigen Alter darf eine Höchstmenge des verordneten Arzneimittels von einem Bedarf für vier Wochen nicht überschritten werden. In allen anderen Fällen darf der Bedarf von bis zu zwölf Wochen verordnet werden.
Nach dem Tag ihrer Ausstellung sind T-Rezepte sechs Tage lang gültig.
Die Patienten erhalten notwendiges medizinisches Informationsmaterial (Schulungsmaterial) sowie eine Patientenkarte (Therapiepass) vom verschreibenden Arzt. Für die Abgabe der Packungsbeilage sind seit dem 1. März 2022 /apotheke/aenderung-t-rezepte die Apotheken verantwortlich. Die Apotheken müssen den Erhalt der T-Rezepte dokumentieren und die Durchschriften wöchentlich an das BfArM übermitteln. Über das sogenannte T-Register wird die Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln mit Thalidomid, Lenalidomid und Pomalidomid überwacht.
Handhabung
Die Patienten müssen dazu angehalten werden, Thalidomid-Analoga niemals an andere Personen weiterzugeben und nicht verbrauchte Kapseln am Ende der Behandlung an die Apotheke zurückzugeben.
Angehörige der Heilberufe und Pflegekräfte müssen bei der Handhabung der Blister oder Kapseln Einweghandschuhe tragen. Schwangere oder Frauen, die schwanger sein könnten, dürfen die Blister oder Kapseln nicht handhaben.